Noch bis zum 6. Oktober 2024 werden die Besucherinnen und Besucher des GRASSI Museums für Angewandte Kunst mit einer außergewöhnlichen Präsentation überrascht. Anlässlich des 150. Gründungsjubiläums des Museums inszenierte der renommierte amerikanische Künstler und Regisseur Robert Wilson „A Chair and You“ als ein spektakuläres Objekttheater, eine Oper in vier Akten in magischen Bühnenwelten, als veritablen Budenzauber, der einfach nur über die Maßen begeistert.
Doch wie kam es dazu?
Verschiedene Ideen für eine Jubiläumsausstellung spukten schon in den Köpfen von Direktor Olaf Thormann und seiner Stellvertreterin Anett Lamprecht, als sie im Herbst 2022 gemeinsam nach Lausanne in die Schweiz fuhren. Die scheidende Museumsdirektorin des mudac, Chantal Prod’Hom, die sich seit 2000 maßgeblich um die Entwicklung des Museums und des neuen Kunstquartiers Plateforme 10 verdient machte, hatte eingeladen. Zwei Mal jährlich versammeln sich die Vertreterinnen und Vertreter eines lockeren Zusammenschlusses der führenden Museen für angewandte Kunst und Design aus Europa und der Welt zum informellen Austausch, besprechen Projekte und halten sich auf dem Laufenden. Man bleibt ohne Statut, ganz flexibel und die gastgebenden Destinationen finden sich immer dort, wo gerade etwas Neues passiert oder eröffnet wird.
Von 2000 bis 2021 residierte das mudac – das Musée des arts décoratifs der Stadt Lausanne – in der Maison Gaudard an der Place de la Cathédrale. Ab November 2021 verdoppelte das mudac seine Fläche durch den Umzug in ein, vom portugiesischen Architekturbüro Aires Mateus entworfenes Gebäude im neuen, 25.000 m² großen Kunstquartier im Herzen der Stadt Lausanne. Der Zusammenschluss des Musée Cantonal des Beaux-Arts (MCBA), Photo Elysée und des mudac mit den Stiftungen Toms Pauli und Félix Vallotton bildet das neue Viertel PLATEFORME 10. Für das mudac verband sich diese grandiose Erneuerung mit dem Abschied von seiner langjährigen Leiterin Chantal Prod’Hom – ein denkwürdiger Anlass, der nach einer besonderen Würdigung, einer exzeptionellen Sonderausstellung verlangte:
Chantal Prod’Hom konnte Robert Wilson für die Inszenierung der Stuhlobjekte aus der Sammlung des Genfer Unternehmers Thierry Barbier-Mueller in den neuen Räumen des mudac gewinnen. Damit wurde diese wundervolle Metamorphose, die theatralischen Inszenierung eines längst aus-erzählt geglaubten, alltäglichen Gegenstandes ermöglicht. Die Stühle dieser Privatsammlung sind keine Ansammlung von Gebrauchsgegenständen. Sie erscheinen wie Lebewesen, die sich ihrem eigentlichen Zweck als Sitzmöbel oft entziehen. Die metaphorische Überhöhung und Verfremdung verwandelt die Stühle in Individuen oder in Skulpturen, die die unsicheren Grenzen des Physischen auf Robert Wilsons kongenial erschaffener Bühne erkunden.
Olaf Thormann und Anett Lamprecht gerieten in den Bann dieser Installation. Olaf Thormann beschreibt seine Wahrnehmung der von Licht und Ton getragenen Räume als ein Gesamterlebnis, in das er eintauchte um total begeistert und glücklich wieder aufzutauchen. Das Empfinden und Erleben der Inszenierung als Gesamtkunstwerk erschien ihm spontan als genau das, was er sich für den Geburtstag seines Grassi Museums wünschte und auch Anett Lamprecht war über die Maße fasziniert.
Umgehend fragten sie im mudac an, ob eine Übernahme der Schau denkbar wäre. Da diese nicht von vornherein als Wanderausstellung konzipiert wurde, mussten die Überlegungen völlig neue Wege gehen. Beatrice Leanza folgte Chantal Prod’Hom als Direktorin des mudac, Chantal blieb als Kuratorin in enger Verbindung mit dem Team von Robert Wilson. Der Sammler Thierry Barbier-Mueller verstarb 2023 unerwartet, sodass seine Töchter und in ihrem Namen die Kuratorin Charlotte Savolainen-Mailler in die Konsultationen eintraten. Außerordentlich wohlwollend wurden diese geführt und doch erreichten gerade die Fragen der Finanzierung ein deutlich anderes Level als sonst im Grassimuseum üblich. Die Einigung auf ein realistisches Finanzkonstrukt, das auch von der Stadt Leipzig als Betreiberin des Museums akzeptiert wurde, stellte somit eine große Herausforderung dar. Und schließlich unterstützte die Fondation Barbier-Mueller das Vorhaben mit weiteren 110.000 CHF, sodass damit die Basis geschaffen war. „Begeisterung ist keine Währung“ stellt Olaf Thormann fest, „nur eine ideelle Stimulans!“
Es war wichtig die Umsetzung das Transfers noch während der Laufzeit der Schau in Lausanne zu klären, um auch die organisatorischen und logistischen Fragen des Umzugs nach Leipzig frühzeitig zu lösen. Das Team von Robert Wilson, allen voran die Szenografin Annick Lavallé-Benny, besuchte das Grassimuseum, um die Übertragbarkeit der Installation zu prüfen, die in Lausanne auf einem ganz anderen Grundriss stattfand als er nun im Grassi gegeben war.
Im mudac wurden die Besucherinnen und Besucher im „Bright Space“ empfangen und eingestimmt, von der monochromen Ruhe des „Medium Space“ weitergeleitet in den „Dark Space“, aus dem die Stars der Sammlung ins Scheinwerferlicht hervortreten. Abschließend bot das „Kaleidoskop“ Einblicke in die Schatztruhe metallisch verschmelzender Stuhlformen.
Für Leipzig, so einigte man sich schnell, sollte die Abfolge der Räume auf den Kopf gestellt werden, um einen Rhythmus zu finden, der sich doch kongruent zu Robert Wilsons ursprünglich entwickelten Stimmungsräumen verhält. Kongenial entwickelt sich nun die szenografische Choreografie. Kleine Lichtkompositionen führen ins Dunkel zu den kostbar metallischen Stuhlabstraktionen, die nur durch Bullaugen zu betrachten sind. Hinter einem hellgleißenden, quadratischen Einschlupf öffnet sich geheimnisvolle Dunkelheit zu ebenso geheimnisvollen Klängen von Arvo Pärt, in denen sich die Licht- und Schattenspiele der Stühle drehen und wiegen. Mechanical Sounds begleiten die Entdeckungen der in diffuses Licht getauchten Stuhlinstallationen des „Medium Space“. Ein mit winzigen roten Pompons übersäter Korridor leitet ins Licht, in die vergnügt übermutige Stimmung der Sound- und Playground-Inszenierung wundersamster Stuhlkreationen. Im Grassi endet der Parcours unter freiem Himmel, im verwunschenen Rehgarten – mit einem kleinen roten Stuhlmodell auf einer weißen Stehle – selbstverständlich, ganz leicht.
Olaf Thormann berichtet von dem ersten Besuch Robert Wilsons, im August 2023, als die Ausstellung „Von Bonnard bis Klemke“ lief, zu deren Künstlerinnen und Protagonisten der Amerikaner begeistert viele persönliche Bezüge herstellte. Ganz „nebenbei“ nahm er die Räume war, die Situationen und Möglichkeiten einschätzend. Seine Professionalität und Verbindlichkeit, von dem Moment an, da das Projekt der Übernahme von „A Chair and You“ vereinbart war, beeindruckt Olaf Thormann sehr. Insbesondere angesichts der Gleichzeitigkeit und Fülle an Projekten auf der ganzen Welt, die er alle mit gleichbleibender Konzentration und Akribie verfolgt – trotz seines hohen Alters. Jedem Detail schenkt Wilson seine ganze Aufmerksamkeit, um eine Vollkommenheit des Ganzen zu erreichen.
„Die Inszenierung ist das eigentliche Kunstwerk, eine atmosphärische Explosion. Über die einzelnen Stühle hinaus, deren Sammlungskonzept eher die Individualität und Kreativität in den Fokus stellt. Aus 150 Stuhl-Individualisten schuf er ein Ensemble, das herrlich miteinander redet und swingt – das macht ihn so bewundernswert!“, schließt der Direktor begeistert.
“A Chair and You” läuft bis zum 6.Oktober 2014 im Grassi Museum für Angewandte Kunst Leipzig.
Das BUCH ZUR AUSSTELLUNG : Das Buch zur Sammlung Thierry Barbier-Mueller ist im Museumsshop erhältlich: “The Spirit of Chairs. The Chair Collection of Thierry Barbier-Mueller”, Lars Müller Publishers 2022, 384 Seiten, 927 Abbildungen (engl./ franz.)