Hintergrund

360°

Haben Sie‘s bemerkt? Seine arg zerrissene Hose und rutschenden Strümpfe. Die geleerte Weinflasche ragt aus der rechten Jackentasche. Mit lautem Gesang scheint er den eigenen Dudelsack zu übertönen. Er dreht sich schwungvoll im Kreis, in seiner feschen, goldgeknöpften königsblauen Jacke, unter‘m löchrigen Hut. Als 33 cm hoher Dudelsackpfeifer aus Meissen um 1750, ist er aus schimmerndem Porzellan gefertigt. Sein Sockel ist als schlohweißes Felsenpodest ausgebildet, geschmückt mit Blüten, Blättern und goldenen Rocaille-Schnörkeln. Prächtig sieht er aus – trotz seiner zerschlissenen Kleidung und offensichtlichen Trunkenheit. Mehr über ihn kann man im online-Katalog des GRASSI Museums für Angewandte Kunst erfahren.

Bachant| & Bachantin, Meissen um 1765 | Foto: Esther Hoyer

Der Dudelsackpfeifer ist ein Exponat aus der Sonderausstellung “FRAGILE PRACHT. Glanzstücke der Porzellankunst” in der Pfeilerhalle des GRASSI Museums für Angewandte Kunst. Dort steht er mit weiteren Porzellanen aus dem 18. und 19. Jahrhundert in der Vitrine, bereit bestaunt zu werden. Doch ihm und drei weiteren Porzellanfiguren aus der Sammlung, dem Bachant und der Bachantin aus Meissen 1765 sowie Mars und Minerva aus dem Berlin des Jahres 1771 ist etwas Wundersames geschehen.

Die neuesten Errungenschaften digitaler Technologie wurden auf ein museales Level gehoben. Wir kennen das bisher aus Online-Shops, die uns erlauben, die neuesten Sneakermodelle und Akku-Bohrer virtuell interaktiv zu drehen und zu wenden um jedes Detail in Augenschein zu nehmen und unsere Kaufentscheidung möglichst positiv zu beeinflussen. Nun macht sich diese 360° Objektfotografie im Museum nützlich!

In Leipzig verfeinerten die Fotografin Esther Hoyer und die Fotografenagentur Punctum gemeinsam die Technik der 360° Fotografie für museale Ansprüche. Hier kommt es auf die besonders präzise Darstellung der materiellen Oberflächen und die detailgetreue Wiedergabe des Objekts an. Geschliffenes Glas, mehrere Materialien und Techniken verbindende Stickereien und Textilien, Metall und Keramik werden in einer beeindruckenden, das Original fast übertreffenden, doch virtuellen Stofflichkeit dargestellt. Alle Interessierten, aber vor allen auch Kurator/-innen, Sammler/-innen und Forscher/-innen können das Objekt so, unabhängig von Zeit und Ort, in ihre virtuelle Hand nehmen, genau betrachten und ihre Schlüsse ziehen.

Die Voraussetzung zur Herstellung dieser interaktiven Files ist die Anwendung einer speziellen Technik. Sie erlaubt die technischen Komponenten sowie den Drehteller, auf dem das Objekt optimal ausgeleuchtet steht, durch eine spezielle Software zu steuern. Viele brillant scharfe Einzelfotos ergeben eine zoombare Animation, die als interaktives HTML-File im Web darstellbar ist.


Vitrinenansicht | Foto: Schnuppe von Gwinner

Auf der Homepage zur aktuellen Ausstellung „FRAGILE PRACHT. Glanzstücke der Porzellankunst“ kann man aktuell „die Puppen tanzen lassen” – vier wunderbare Beispiele aus dieser beeindruckenden Ausstellung, die sich im Museum unbedingt zu besuchen lohnt. Die 360° Grad fotografierten Figuren kann man dort im Original antreffen – und wird sie sicher mit besonderer Aufmerksamkeit betrachten. Einzig die Dimensionen lassen sich trotz aller technischer Tricks nicht wirklich nachvollziehbar darstellen. Die Fotografie egalisiert die Maßstäbe. Mit 33 cm wirkt der Dudelsackpfeifer in der Realität überraschend groß. Er ist 8 cm höher als Mars – und überraschend stattlich im Kreise seiner Artgenossen aus den Porzellanmanufakturen in Meissen, Berlin und anderswo.

Kurator Dr. Thomas Rudi führt Sie digital durch die Sonderausstellung “FRAGILE PRACHT. Glanzstücke der Porzellankunst“. Nach einer kurzen Einleitung, die bereits online abrufbar ist, folgt jeden Monat eine neue Kurzführung zu den unterschiedlichen Themenbereichen der Ausstellung.
Hier geht es zur Videoserie

>HIER geht es zur Ausstellung “FRAGILE PRACHT” (bis 9. Oktober 2022) deren Besuch sich unbedingt auch als realer, analoger Ausflug lohnt!