Hintergrund

Die geheimnisvolle della Robbia Madonna – Teil III – im Gespräch mit Dr. Thomas Rudi

Dr. Thomas Rudi, Kurator Historische Sammlungen am GRASSI Museum für Angewandte Kunst in Leipzig, erwartet mich in seinem Büro. Sein Schreibtisch ist übersät mit Lesezeichen gespickten Büchern, Computerausdrucken und Notizzetteln. Abbildungen der della Robbia Madonna hängen am Fenster, immer im Blick. Die Freude über seine erfolgreiche Recherche erfüllt den ganzen Raum und lässt die Erinnerung an manche quälende Ungewissheiten, die sich während seiner Forschungen auftaten, zurücktreten. In seinen detaillierten Ausführungen über die schrittweise Enthüllung des Geheimnisses um die Madonna spielen die dramatisch verwirrenden Zeitläufte der vergangenen Jahrhunderte und ihre Konsequenzen eine Hauptrolle.

Im Jahr 2012 kam die della Robbia Madonna als Dauerleihgabe des Bundesverwaltungsamtes in Berlin an das GRASSI Museum für Angewandte Kunst nach Leipzig. Dieses Amt hütet bis heute noch zahlreiche Kunstschätze, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten aus verschiedenen Lagerstätten in die so genannten „Collecting Points“ gebracht wurden, Objekte deren Herkunft man nicht kannte. Die Madonna ging 1945 an dem Central Collecting Point in München ein, der auch das Kunstdepot für den Sonderauftrag Linz, das geplante „Führermuseum“, aufnahm. Seit 1939 hatten von Hitler Beauftragte in verschiedenen Ländern herausragende Kunstwerke gekauft und beschlagnahmt, „Ein heikles Thema“ wie Dr. Thomas Rudi anmerkt.

Gleich nach 1945 versuchte man heraus zu finden, wer die wahren Eigentümer waren und konnte erfolgreich viele tausend Objekte an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückgeben. Das dafür verantwortliche Bundesverwaltungsamt stellt seit 1965 die Kunstwerke, für die kein Eigentümer festgestellt werden konnte, als Dauerleihgaben für Museen und Behörden zur Verfügung. Mit ihrer Präsentation in der Öffentlichkeit steigt die Chance, dass Objekte von wohlmöglichen Besitzern entdeckt und restituiert werden können. Darüber hinaus gibt es heute natürlich auch eine vollständige Dokumentation im Internet die jeder einsehen kann: Datenbank “Sammlung des Sonderauftrages Linz”

Ab 1969 war die della Robbia Madonna im Museum für Kunst & Gewerbe in Hamburg. Wahrscheinlich wurde sie dort seit 1972 ausgestellt, vor einer weißen Wand, unter dem Bogen, die Lünette und die Madonna mit dem Kind auf der Konsole – alles andere fehlt. 1998 kehrte die Madonna nach Berlin zurück, um 2012 nach Leipzig umzuziehen.

Mit ihr tauchten viele Fragen auf, allen voran die nach ihrer Provenienz. Wo war sie vorher und wie könnte man feststellen wer sie und warum verkauft hat? 1941 tauchte sie im Kunsthandel auf. Doch wer war der Eigentümer? Wo war sie aufgestellt? In einer Kirche? In Privatbesitz? Und wie war sie ausgestellt? Wie könnte man sie ergänzen? Nach historischen Vorbildern? Oder ganz neutral? Dr. Thomas Rudi stürzte sich in die Recherche und wälzte unzählige Kunstbände, Kataloge und kunsthistorische Zeitschriften. Er verglich eine Fülle von Bildern: Wie sieht die Konsole aus? Wie die Pilaster? Wo waren die Voluten angebracht? Wie sieht es bei anderen Werken aus der Werkstatt della Robbias aus? Wie muss man sich das vorstellen?

Unzählige Male blätterte er immer und immer wieder einen bestimmten Katalog durch (Giancarlo Gentilini, I della Robbia e l´arte nuova della scultura invetriata, Florenz 1998). Dann, auf der Suche nach einem bestimmten Voluten-Motiv, noch einmal, um jedes Bild genau zu betrachten, um eine mögliche „Betriebsblindheit“ zu überwinden.

DAS ist unsere Madonna!

In Hamburg wurde die Madonna auf „um 1510“ datiert. In den Karteikarten der Bundesbehörden auf 1526, was sonst nirgendwo auftaucht. Warum so präzise 1526? Sonst würde man vielleicht um 1520/30 schreiben, aber weshalb genau 1526? Dann entdeckte er die Datierung „1526“ auf diesem Foto und war wie elektrisiert! Ein Vergleichsstück, genau die gleiche oder aber „unsere“ Madonna? Auch die Rahmung schien vergleichbar, die Voluten, die Malerei des Hintergrundes, die Konsole und so weiter – im Katalog heißt es, das Werk sei verschollen!

della Robbia Madonna, Castello Vincigliata, nach 1891 | Foto: Carlo Brogi, Archivi Alinari Firenze

Seine weitere Recherche ergab, dass das Foto die Innenansicht einer Kapelle im Kastell Vincigliata bei Fiesole in Italien zeigt. Also suchte er weiter und fand uralte Publikationen, darunter auch eine italienische Schrift über das Castello mit einem weiteren Foto aus dem Innenraum der Kapelle.
Das Kastell Vincigliata wurde 1855 von einem wohlhabenden Engländer namens John Temple Leader gekauft der auch in Florenz einige Palazzi erwarb und renovieren ließ. Als er in der Umgebung das völlig verfallene Castello entdeckte, verliebte er sich gleich und kaufte es mit allen Ländereien. Über zwölf Jahre, gemeinsam mit einem jungen Architekten, betrieb er die Instandsetzung des Anwesens, seinem Idealbild der Zeit der Spätgotik und der Renaissance folgend. Von 1855 bis 1890 erwarb er wertvolle Kunstwerke dieser Epochen zur Ausstattung von Vincigliata.

della Robbia Madonna, Castello Vincigliata, nach 1891 | Foto: Carlo Brogi, Archivi Alinari Firenze

1897 wird erstmalig „unsere“ Madonna erwähnt, beschrieben und fotografiert. Nach dieser Dokumentation scheint es, dass John Temple Leader die Madonna 1891 kaufte und kurz darauf in seine Kapelle einbauen ließ. Della Robbia Spezialisten wissen 1918/20 sogar zu berichten, dass sie vorher zum Inventar des Palazzo des Marquese Corsi Salviati in der Via Ghibellina in Florenz gehörte. Weiter zurück lässt sie sich allerdings nicht gesichert verfolgen. John Temple Leader starb 1903 kinderlos und vermachte sein Castello inklusive Inneneinrichtung und Kunstwerken an seinen Großneffen. Dieser wiederum veräußerte 1917 alles an den Baron Alberto Fassini. Aus der Zeit 1915/20 gibt es wieder Fotos, auch von der Madonna an ihrem Platz in der Kapelle. Schließlich verkauft Fassini 1925 wieder alles. Fast alles! 20 erlesene Stücke der umfangreichen Kunstsammlung behält er für sich zurück. Darunter auch „unsere“ Madonna, die nun im Palazzo Borghese in Nettuno bei Rom ihren Platz findet.

Dr. Thomas Rudi stöbert sie in einem 1930 veröffentlichten Katalog des italienischen Kunsthistorikers Adolfo Venturi auf, wo sie im Rahmen der Sammlung Fassini vorgestellt wird. Also scheint sie über das Jahr 1930 hinaus Teil von dessen Sammlung gewesen zu sein. Bis er starb und die Objekte seiner Sammlung in den Kunsthandel kamen. Am 12. Juli 1941 wurde die Madonna von Prinz Philipp von Hessen erworben. Als ausgewiesener Architektur- und Kunstkenner verantwortete er für den Sonderauftrag Linz die Kunstankäufe in Italien. Bis hierher wirklich eine wahnsinnige Geschichte!

photogrammetische Auswertungen der beiden historischen Aufnahmen | Foto: C.Jürgens

Die gefundenen Fotografien der Madonna bilden nun die Vorlage für die Rekonstruktion der fehlenden Teile des gesamten Ensembles. „Wir halten uns genau daran, aber doch so, dass der Betrachter auch sieht, wann es sich um Ergänzungen handelt. Es gibt natürlich immer unterschiedliche Auffassungen. Einerseits soll es schlüssig aussehen, andererseits will man den Besuchern nichts vormachen.“ erklärt Dr. Rudi. „Auch der rekonstruierte Zustand erzählt viel über die Entstehungszeit der Madonna.“

Hinsichtlich der Datierung der della Robbia Madonna bringt der Kunsthistoriker der naturwissenschaftlichen Thermolumineszenz-Methode Vorbehalte entgegen. „Man weiß, dass die Ergebnisse unterschiedlich ausfallen können, weil die Objekte beispielsweise in Bergwerken gelagert wurden und sich die Radioaktivität dadurch verändern konnte.“ Er vertritt die Ansicht, dass fast alle Teile der Madonna im 16. Jahrhundert in einem Zusammenhang entstanden sind. Auch der Bogen und die Pilaster zum Ende des 16. Jahrhunderts. „Eventuell hat man die Madonna hergestellt und erst relativ spät eingebaut.“

Und er gerät ins Schwärmen: „Das war ja das Fantastische an der della Robbia-Familie. Luca, der Großonkel von Giovanni, war der erste, der Terrakotta-Figuren mit polychromen Glasuren in dieser Größe herstellte. Das war in dieser Zeit eine innovative Idee! Figuren aus Keramik waren wesentlich günstiger in der Herstellung als Bronze- oder Marmorfiguren und es konnte schneller und individueller gearbeitet werden. So konnten die Künstler auf die Wünsche der Auftraggeber viel direkter reagieren, das war sensationell!“ Man muss sich das Ganze, besonders auch durch die Fortführung dieses Prinzips durch Andrea, Giovanni und ihre Nachfolger, als Manufaktur vorstellen, die schließlich nur noch glasierte Tonfiguren herstellte. In der Literatur fand Dr. Thomas Rudi eine ganz ähnliche Figur, die Giovanni della Robbia um 1520/25 zugeschrieben wird und die ihn in seiner Einschätzung bestätigt: „Werkstatt Giovanni della Robbia, so etwas ist einmalig in unserer Dauerausstellung!”

Ab sofort wird die Madonna in der Ständigen Ausstellung „Antike bis Historismus“ im Museum auch für die Öffentlichkeit zu sehen sein.