Hintergrund

Die Poesie der Geometrie – zum Gedenken an Gertrud Menzel

Seit vielen Jahrzehnten begegneten wir Ihr an jenen Orten, wo bis heute noch passioniert mit dem Publikum über gestalterische Details sinniert, philosophiert und konstruktiv debattiert werden kann. Die alljährlichen Messen für angewandte Kunst in Hamburg, in Leipzig, … sind diese Orte, an denen die Schmuckgestalterin Gertrud Menzel zuverlässig als Ausstellerin auftrat.

© ART AUREA Judith Büthe

In der Vorbereitung inszenierte sie die Präsentation ihrer Schmuckunikate puristisch, ihrem gepflegten Minimalismus angemessen. Die darauf folgenden Messetage hütete und erklärte sie ihre Schätze mit niemals versiegender Freundlichkeit. Sie erschien aus der Zeit gefallen in Werk und Habitus, doch gleichzeitig beharrlich up to date mit ihren dreidimensionalen poetisch-geometrischen Kreationen aus silbernen und goldenen Blechen, kombiniert mit Acryl, bemalt mit Acryllack.

© ART AUREA Judith Büthe

Ihre anmutigen Konstruktionen, mal mehr die Flächen, mal mehr die Linien betonend, bespielen vor allem das Quadrat, seltener das Rechteck, als Bühne. Diese Anhänger, mal mehr Box, mal mehr Rahmen, aufgehängt an filigranen Drähten, denken als Halsschmuck die Bewegung im wechselnden Licht mit. Als kinästhetisches Erlebnis thematisieren sie die räumlichen Beziehungen feiner Oberflächen, delikater Farbaufträge, Streifenmuster oder Faltungen. Schaut her, wie subtil und präzise dieses Material bearbeitet, dieses Metallband gebogen, diese Fläche oder Linie lackiert, diese Verbindung gebohrt, vernietet und verlötet ist! Technisch absolut perfekt und doch gleichzeitig spielerisch, gesteckt, gefächert, gebogen, gereiht, gestapelt, …

© ART AUREA Judith Büthe

Gertrud Menzels Schmuckstücke muten in der Gesamtschau wie eine Studienanordnung an, in der sie ihre Kompositions-und Konstruktions-Schritte entwickelt, gewürdigt und variiert hat. So entstanden Werkgruppen und Werkfamilien, Anhänger, Broschen, Colliers aus aneinander gereihten, hohlen Kuben und überraschend tragbare, quadratische Ringe. Jedes einzelne Objekt ist als dreidimensionale Miniatur-Skulptur ein veritables „Conversation Piece“, an dessen Bewunderung sich garantiert Gespräche über Gestalt und Wirkung anschließen.

© ART AUREA Judith Büthe

Manche erkennen darin die sehr kleinen Verwandten zu den Werken des Künstlers Donald Judd und der Minimal Art der 1960er-Jahre. Gertrud Menzels formale Nähe zu dessen großformatigen Skulpturen und Installationen jener Zeit gründet auf dem Verlangen ihrer eigenen Generation, der in den 1920er-Jahren Geborenen, nach überschaubarer Einfachheit und Klarheit. Auch die Tatsache, dass die 1926 geborene Gertrud Menzel erst von 1965 bis 1970 studierte – an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste im Fachbereich Industriedesign bei ihrem Altersgenossen Professor Peter Raacke, der durch das erfolgreiche Besteck mono bekannt wurde – mag den Hintergrund ihrer Inspiration darüber hinaus erklären. Selbst den Bauhaus-Designer und Goldschmied Wolfgang Tümpel, der bis 1968 die Metallwerkstatt an der Hochschule leitete, erlebte Gertrud Menzel noch als Lehrer.

© ART AUREA Judith Büthe

Als Spätberufene näherte sie sich der Berufung zur Schmuckgestalterin. Die Tochter eines Klempnermeisters wuchs als Älteste von vier Geschwistern im Nordenhamer Stadtteil Schweewarden auf. Von 1942 bis 1945 erhielt sie in Dresden eine Ausbildung zur chemisch-technischen Assistentin. Anschließend arbeitete sie in München bis ihr dortiges Forschungslabor durch einen Bombenangriff zerstört wurde. So kehrte sie in die Wesermarsch zurück und arbeitete für eine Firma in Brake. Mit gerade 20 Jahren erlebte sie den Unfalltod ihrer Mutter, worauf sie die Sorge um ihre jüngeren Geschwister übernahm. Von 1961 bis 1964 lebte und arbeitete Gertrud Menzel in Kanada. Auf einer Reise nach Nordamerika lernte sie die Schmuckfertigung der Navajo und Hopi kennen. Zurück in Hamburg nahm sie bald ihre Ausbildung zur Schmuckdesignerin auf und machte sich anschließend selbständig.

Grassi Preis 2009 | Foto: Esther Hoyer

Seither sorgte sie in ihrer ruhigen, freundlichen Klarheit für eine charakteristische und au0ergewöhnliche Stimme in der Schmuckkunst der vergangenen Dekaden. Weder sie noch ihr Objekte schienen zu altern. Ihre Beiträge waren zu jeder Zeit relevant, wurden beachtet und geschätzt. Die 90-jährige Gertrud Menzel erhielt im Jahr 2016 den renommierten Justus Brinckmann Preis in Hamburg, nachdem sie schon 2009 in Leipzig mit dem GRASSI Preis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde. Am 5. August 2021 starb die bis zuletzt unermüdliche Gestalterin Gertrud Menzel. Ihre wunderbaren Schmuckstücke leben in öffentlichen Sammlungen und privaten Schatullen fort.

Autorin der bemerkenswerten Bilder dieses Beitrags ist die Fotografin Judith Büthe, die im Jahr 2016 von der Zeitschrift Art Aurea beauftragt wurde.