Hintergrund

Eine glückliche Stunde – die Schenkung eines „Livre d’heures“ von 1480

Ein kleines Stück wunderbarer Buchkunst hat den Weg ins GRASSI Museum für Angewandte Kunst gefunden – ein sogenanntes Stundenbuch, ein reich illuminiertes Manuskript auf Pergament. Mit dem Spätmittelalter gewannen derlei kostbar ausgestattete Stundenbücher in den Kreisen reicher, lesekundiger – adliger wie nichtadliger – Laien große Bedeutung als private Andachtsbücher. Sie erlebten im 14. und 15. Jahrhundert vor allem im französisch-niederländischen Kulturkreis ihre Blütezeit, waren aber auch in Deutschland, Italien und Spanien verbreitet. Schon das Äußere unseres „Livre d’heures“ verrät, dass dieses Buch vielfach in die Hand genommen wurde, in der Zeit der Entstehung des Einbandes und danach allerdings weniger zu Andacht und Gebet als vielmehr zur Erbauung an den prachtvollen Miniaturen, goldbelegten Texthervorhebungen und farbintensiven Bordüren.

Stundenbuch 1480 Illumination: Anbetung der Heiligen Drei Könige | Scan GRASSI Museum für Angewandte Kunst

Der Stifter dieses faszinierenden Kleinods gehört dem Freundeskreis des GRASSI Museums für Angewandte Kunst an, dessen Vorstand das Stundenbuch in der letzten Jahresversammlung den Mitgliedern präsentierte – zum Staunen und Bewundern, aber auch als Anregung zu solch mäzenatischem Tun.

Stundenbuch 1480 Illumination: Vorstellung des Christuskinds im Tempel | Scan GRASSI Museum für Angewandte Kunst

Für das Museum ist diese Schenkung von enormer Bedeutung, ja, sie ist ein Glücksfall für den Bestand, in dem bislang kein Objekt dieser Art existierte, mit dem sich Form, Funktion, Struktur und Ästhetik dieser Sonderform des Gebetbuches hätten aufzeigen lassen. Es ist das erste komplette Objekt dieser Art in der Sammlung, in der es bisher nur wenige Einzelblätter aus jeweils größeren Zusammenhängen und Handschriftenfragmente gab. Der sammlungsgeschichtliche Hintergrund dafür: zur Gründungszeit des stets mit nur knapper Kasse ausgestatteten Museums war die Erwerbung solcher Objekte bereits mit sehr hohen Kosten verbunden, bessergestellte Sammlungen und vermögende Sammler dominierten den Markt. Zudem gab es bereits zwei große Sammlungen in Leipzig mit einschlägigen Beständen (die Universitätsbibliothek und die Stadtbibliothek), zu denen wenig später auch noch die Sammlung des Buchgewerbevereins, das heutige Deutsche Buch- und Schriftmuseum, hinzukam.

 

Stundenbuch 1480 Illumination: Mariä Verkündigung | GRASSI Museum für Angewandte Kunst

Damit war die ja in mehrfachem Sinne angewandte Kunst der Buchmalerei für das Museum gleichsam „verloren“. Die Spezifik der Stundenbücher als Gebrauchsgut zwischen Luxus und Alltag, benötigt im täglichen Gebet, zumal von mehreren handwerklich und künstlerisch Beteiligten hergestellt, verleiht aber diesem Buchtyp im Kontext angewandter Künste besonderes Interesse. Schreiber oder Kalligraphen für die Texte, Illuminatoren für Bordüren und Miniaturen, Rubrikatoren und Vergolder für Hervorhebungen und Zierelemente in den Texten, Buchbinder und andere Kunsthandwerker für den Einband sind bzw. können an der Produktion dieser Buchwunder beteiligt gewesen sein.

Nun aber liegt vor uns ein lateinisch-französisches Stundenbuch, eine Handschrift auf Pergament, mit zahlreichen prachtvollen farbigen Miniaturen, Bordüren, Initialen und Hervorhebungen im Text. Diese reich illuminierte und geschmückte Stundenbuchhandschrift verweist auf eine Entstehung in Paris im späten 15. Jahrhundert, etwa um 1480 oder wenig später. Dies belegen nicht nur die für französische Stundenbücher typischen Bestandteile Marienoffizium, Bußpsalmen, Litanei, Kreuzoffizium, Heilig-Geist-Offizium, Totenoffizium, Heiligengebete und Evangelienlesungen, sondern vor allem die in Kalender und Litanei vorkommenden Heiligen. Die Miniaturen können einem Maler aus dem Umkreis des seit den 1470er Jahren wirksamen Maître François zugeordnet werden. Wie das Stundenbuch selbst belegt, war es im 16. und 17. Jahrhundert im Besitz der französischen Adelsfamilie L’Hermite, deren Sparrenwappen auf silbernem Grund häufig im Objekt anzutreffen ist wie aber auch weitere, nichtidentifizierte Vorbesitzerhinweise, oft in Verbindung mit dem Sparrenwappen.

Stundenbuch 1480 Illumination: Verkündigung der Hirten | Scan GRASSI Museum für Angewandte Kunst

Ins Auge fällt auch der eingefügte kolorierte Kupferstich eines Porträts des Pierre l’Hermite (Buchillustration von 1632 bzw. 1645), eines Eremiten, Ordensmanns und Klostergründers, der der Legende nach den sogenannten Volkskreuzzug initiiert und bereits 1095 den Versuch unternommen haben soll, ins Heilige Land zu reisen. Die Verbindung der Familie l’Hermite zum „Eremiten“ Peter ist wohl eher mythisch-metaphorischer Natur und absichtsvoll hergestellte Genealogie, durchaus vorstellbar ist allerdings, dass sich unser Stundenbuch im Besitz des Schriftstellers und Mitglieds der Académie française, François Tristan l’Hermite (1601–1655) befunden haben könnte.

Teilen auch Sie unsere große Freude und Dankbarkeit, ein solches Objekt in den Schatzkammern des GRASSI Museums für Angewandte Kunst zu wissen. Ab 9. Juli 2019 wird es in der Ständigen Ausstellung zu bewundern sein. Ein zweimaliger Seitenwechsel pro Jahr sorgt für spannende Einblicke ins Original, geplant sind weiterhin Digitalisierung und öffentlicher Zugang zum Digitalisat.