Hintergrund

Restaurierung hört dort auf, wo die Fantasie anfängt

Dies ist ein Credo von Christian Jürgens, dem Chefrestaurator am GRASSI Museum für Angewandte Kunst, der nun, nach vierzig überaus bewegten und interessanten Berufsjahren, den Staffelstab an die jüngere Generation weitergibt. Am 1. September 1982 stellte ihn Angela Grzesiak, von 1981 bis 1992 Direktorin am Museum des Kunsthandwerks Leipzig, als Museumstechniker ein: „Wir werden Sie zum Studium delegieren und dann bauen Sie die Restaurierungswerkstatt auf“. Erst sein musealer Arbeitsplatz ermöglichte ihm zu DDR-Zeiten das ersehnte Studium am Museum für Deutsche Geschichte, heute das Deutsche Historische Museum, in Berlin aufzunehmen.

Christian Jürgens mit aktuellen Zeichnungen der Mechanik des Wegemessers (um 1600) Restaurierungswerkstatt des GRASSI MAK | Foto: SvGwinner

Christian Jürgens wollte nach einer Ausbildung zum Schlosser und Maschinenbauer und dem Abschluss des Abiturs an der Abendschule Restaurator werden, da ihn neben dem Inhaltlichen das Materielle an Kunstwerken schon immer sehr interessiert hatte. Nun bekam er tatsächlich die Chance seines Lebens. Ihm folgten alsbald die KollegInnen Ilona Faust für Glas und Keramik, Mirko Weinreich und Thomas Andersch für Holz und Möbel sowie Ingrid Pfeiffer für die Textilien und gemeinsam bauten sie die Restaurierungswerkstätten des GRASSI Museums für Angewandte Kunst auf.

Mit der politischen Wende 1989 begannen unruhige Zeiten und die Verunsicherung war zuerst groß. Doch diese wurden in guter Zusammenarbeit mit neuen Kollegen wie zum Beispiel Dr. Olaf Thormann, dem heutigen Direktor des GRASSI MAK, Sabine Epple als junger Kuratorin und Dr. Martin Eberle, der heute Direktor der Museumslandschaft Hessen Kassel ist, bald überwunden. Einen sehr wichtigen Beitrag leistete Ute Camphausen in dieser Aufbruchstimmung mit dem Aufbau der Objektdokumentation, die als Grundlage der späteren Datenbank diente.

Eine erste Dauerausstellung wurde geplant und die Objekte hierfür aus den maroden Depots geborgen und restauriert. 1994 bekamen die Stücke ihre Würde wieder, indem sie in modernen Vitrinen in fünf Räumen, thematisch von der Antike bis in die Gegenwart führend, präsentiert wurden. Noch war das Gebäude mit vielen Fremdnutzern besetzt, die erst 1992 das Haus verließen. Dann gab es endlich wieder einen Regelbetrieb. Das war der Zeitpunkt für den damaligen Beigeordneten für Kultur in Leipzig, Georg Girardet, und Dr. Eva Maria Hoyer, die 1992 die Direktion des Museums übernommen hatte, nach London zu reisen, um David Chipperfield für die Renovierung und Erweiterung des Gebäudes der GRASSI Museen zu gewinnen. Da die jungen Architekten des Büros Chipperfield das „Gefüge Museum“ genau verstehen wollten, befragten sie alle Museums-MitarbeiterInnen genau nach ihren Bedürfnissen, Vorstellungen und Abläufen, die sie in ihre Planungen für das neue GRASSI Museum einfließen lassen wollten. Noch heute lebt die Begeisterung über diese gegenseitig wertschätzende Zusammenarbeit bei allen, die sie erleben durften.

Mit gewisser Berechtigung konnte Christian Jürgens also für einen kurzen Moment von einer gläsernen Restaurierungswerkstatt hoch oben in den Baumkronen des Alten Johannisfriedhofs träumen. Dort, an die Friedhofsgrenze, hatte das Büro Chipperfield einen spektakulären Erweiterungsbau für Werkstätten und Depots geplant. „Ich war so happy“, freut sich Christian Jürgens noch heute. Doch dann wurden die großen Pläne vom Rotstift der Sächsischen Staatsregierung durchkreuzt und Leipzig verpasste es damit, zur ersten legendären Adresse eines Museumsbaus von Chipperfield in Deutschland zu werden – eine außerordentliche Rolle, die dann dem Neuen Museum auf der Berliner Museumsinsel zufiel. „Es gab hier in Sachsen nicht die notwendige Wertschätzung für diesen großartigen Architekten,“ bedauert Christian Jürgens, „man stelle sich vor, wir wären die Ersten gewesen…!“

Das Museums-Team mit dem frisch vergoldeten Schriftzug GRASSIMUSEUM 2007 | Foto: Christian Jürgens

Als aus den Luftschlössern nichts werden konnte, engagierte er sich dennoch das Bestmögliche zu erreichen. Für die Werkstätten im Dachgeschoss setzte er großzügig bemessene Grundrisse und technische Ausstattungen auf der Höhe der Zeit durch, die sich bewähren. Die Rekonstruktion der „Ananas“, dem Wahrzeichen des GRASSI Gebäudes, erfolgte ebenfalls 2005 zur Neueinrichtung des Museums. Anhand weniger historischer Fotos, da keine Pläne mehr vorhanden sind. Die Vergoldung dieses Symbols wie auch des Schriftzuges GRASSIMUSEUM organisierte Christian Jürgens für das gesamte Team. Die MitarbeiterInnen des Museums konnten sich alle daran beteiligen und damit ihre Verbundenheit zum Haus ausdrücken.

Christian Jürgens war es immer ein sehr großes Anliegen die Freude an seinem Beruf weiterzugeben. Da die Voraussetzung für ein Restaurierungsstudium in Deutschland ein mindestens einjähriges Vorpraktikum in einer anerkannten Restaurierungswerkstatt ist, schildert er die Zusammenarbeit mit den vielen Praktikanten, die im Laufe der Jahre in der Restaurierungswerkstatt bei ihm erste praktische Restaurierungsarbeiten unter Anleitung durchführen konnten als absolutes Highlight. Aber auch die Betreuung von Semesterarbeiten und Diplomarbeiten gehörten zu den interessantesten Tätigkeiten. Der gegenseitige Austausch und die unterschiedlichen Betrachtungsweisen eröffneten neue Fragestellungen und Perspektiven, die er immer als große Bereicherung empfunden hat. Nebenbei entstand ein stetig wachsendes und gut funktionierendes Netzwerk. So sind auch jetzt einige ehemalige „Grassipraktikanten“ in bedeutenden Museen oder auch freischaffend, nicht nur in Deutschland tätig.

Historischer Eisenschmuck in der ständigen Sammlung des GRASSI MAK

Vorrangig wurden und werden die Sammlungsobjekte des eigenen Hauses restauriert. Durch Krieg, Auslagerungen und durch die schlechten Bedingungen in der DDR-Zeit waren sie in einem furchtbaren Zustand. Beispielhaft schildert er die Rettung eines Konvoluts von historischem Eisenschmuck, der in einer Pultvitrine auf einem Schrank verstaut lag – jahrelang unbemerkt von einer Leckage befeuchtet. Verrostet und korrodiert konnten diese Stücke nur durch eine sehr aufwendige Restaurierung gerettet werden. Unter anderem wurden sie erwärmt und mit Leinöl behandelt, sodass sich ein penetranter Geruch nach gebratenem Fisch durch alle Räume zog. Heute kann man die wunderschönen Eisen-Schmuckstücke in der ständigen Sammlung bewundern.

Christian Jürgens, Gliederpuppe des Meisters im Vergleich mit den Maßen der Proportionslehre Albrecht Dürers | Foto: SvGwinner

Eine ganz besondere Herausforderung und Passion bedeuteten Christian Jürgens die Forschungen an der Gliederpuppe des Monogrammisten IP aus der Zeit um 1525, die wie 1725 in der Leipziger Ratsbibliothek nachgewiesen, 1878 ins Kunstgewerbemuseum gelangt, 1886 an Privat verkauft und schließlich mit Mitteln der Stiftung Hugo Scharf 1912 zurück erworben werden konnte. In einem Aufsatz beschrieb Elisabeth Weymann 2013 diese, und ihre noch erhaltenen „Brüder und Schwestern“ des Meisters IP, als skulpturales Erbe der Proportionslehre Albrecht Dürers. Gemeinsam mit Prof. Klaus Bente, damaliger Direktor des Mineralogischen Instituts der Universität Leipzig, jetzt Tübingen, unterzog Christian Jürgens die Leipziger Gliederpuppe einer eingehenden naturwissenschaftlichen Untersuchung, deren Ergebnisse gleichzeitig publiziert wurden. Im Vergleich zu einer entsprechenden Puppe aus dem Bode-Museum (Berlin) wurde sie archäometrisch untersucht. Mit Hilfe von Computertomographie, DNA-Analyse und Körperproportionsmessungen wurden die Schnitz- und Konstruktionstechniken, die für die “Donauschule” typische Nähe zu Dürers Proportionen festgestellt. Die Konstruktion der hölzernen Puppe ist dem menschlichen Bewegungsapparat nachempfunden. Ein System von Tierdarmsaiten im Innern sorgt dafür, dass sie bis in die Zehenspitzen beweglich ist. Dies wird in der ständigen Ausstellung des GRASSI Museums für Angewandte Kunst, in der die Puppe im Kreis des Leipziger Stadtschatzes aus der Renaissance präsentiert wird, durch eine faszinierende kleine Filmdokumentation anschaulich gemacht. Mehr noch, inzwischen kann Christian Jürgens beweisen, dass die Maße dieser und der anderen Gliederpuppen tatsächlich exakt denen des Originals von Albrecht Dürer entsprechen.

Die naturwissenschaftliche Annäherung an seine Objekte begeistert Christian Jürgens in besonderem Maße, da sie ihm untrügliche Beweise für Materialanalysen und Datierungen liefern.

Chefrestaurator Christian Jürgens mit der della Robbia Madonna | Foto: SvGwinner

Auch im Fall der Ergänzung und Restaurierung der Majolika-Madonna, die heute zu den Highlights der Sammlung gehört, wurde auf diesem Weg Erstaunliches zu Tage gefördert, wie ich hier im Blog ausführlich berichtete. Christian Jürgens sieht die zeitgemäße Restauratorenwerkstatt als Atelier und Labor, da die naturwissenschaftlichen Untersuchungen heute immer mehr in den Fokus rücken. Früher hieß es schnell mal: „Geh mal kurz drüber“, wenn die Objekte für Ausstellungen vorbereitet werden sollten. Inzwischen geht es um ein wissenschaftlich orientiertes Arbeiten, um das ganzheitliche Verstehen der Objekte, das adäquate Bewahren und um die Sicherung der Zeitspuren als wertvolle Informationen.

Auf vielen Dienstreisen, die Christian Jürgens auch bis in das Getty-Center in Los Angeles, nach Washington, Philadelphia und New-York führten, lernte er Museen und KollegInnen kennen. In besonderer Erinnerung ist ihm die Reise nach Vallauris in Südfrankreich gemeinsam mit Dr. Thormann zu dem berühmten Keramiker Gilbert Portanier geblieben, die Begegnung mit diesem hervorragenden Künstler, mit dem auch Pablo Picasso schon zusammenarbeitete, war einzigartig.

In den letzten Jahren war er als Vertreter des GRASSI MAK Ansprechpartner für die städtischen Planungen eines Ausweichdepots in der Halle 12 der Alten Messe in Leipzig. Hier sollen zumindest die Artefakte aus organischen Materialien bessere Bedingungen vorfinden als in ihrer aktuellen Situation – bis 2030. Doch eigentlich geht es um die Planung eines Zentraldepots für die vier städtischen Museen Leipzigs, das ab 2030 eine langfristige Lösung bietet. An diesem Punkt gerät Christian Jürgens ins Schwärmen. Das neue Zentraldepot sollte seiner Meinung nach gleichzeitig ein modernes Restaurierungszentrum aller Museen werden, in dem die Sammlungsdepots und Werkstätten von den naturwissenschaftlichen Laboratorien der universitären Institute flankiert werden. Er entwickelt eine Vision der Gemeinschaft aller wissenschaftlicher Disziplinen, technologischer und naturwissenschaftlicher Aspekte, von gemeinschaftlich geführten Datenbanken, von Schaudepots und gläsernen Werkstätten, die das Sichern und Bewahren von Kulturgütern als Gemeinschaftsaufgabe erlebbar machen.

Christian Jürgens verabschiedet mich: „Ich erinnere mich noch genau an den allerersten Tag – das soll nun schon vierzig Jahre her sein. Wo ist nur die Zeit geblieben?“