Hintergrund

Round-Table “History in Fashion”

Ende Januar versammelten sich textile Fachleute zum Round-Table-Gespräch anlässlich der „History in Fashion“-Ausstellung in der Pfeilerhalle des GRASSI Museums für Angewandte Kunst, um die Bedeutung und zukünftige Entwicklung von Stickerei zu analysieren.
Die Kuratorin Stefanie Seeberg hatte Bettina Goettke Krogmann, Professorin für Textildesign an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, die Leipzigerin Silke Wagler, Inhaberin des Modeateliers Wagler sowie den Textilexperte Reiner Knochel und den Modedesigner Laurent & Herman Progin auf das Podium eingeladen. Nach der Vorstellungsrunde ging es gleich mitten hinein in das Thema.

Silke Wagler erläuterte sehr anschaulich, wie sie in ihrem Berufsalltag – in dem sie individuelle Kleidungsträume für ihre Kunden verwirklicht – Mittel und Wege findet, Handstickerei zu integrieren, obwohl es eine Herausforderung ist unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu sticken. Hochwertige konfektionierte Spitzen und Stickereien werden verarbeitet und fortgeführt oder weiter interpretiert, sodass am Ende doch immer das einzigartige Kleidungsunikat seine Aura entfalten kann. Der Wunsch nach dem Besonderen führt viele ihrer Kundinnen ins Atelier.

ZSK Stickmaschine im GRASSI MAK Foto: Reiner Knochel

Die Kooperation des Studiengangs der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle mit dem GRASSI Museum für Angewandte Kunst war für Bettina Goettke Krogmann der Anlass, auf der Messe Heimtex in Frankfurt den Stickmaschinen-Hersteller ZSK um die Leihgabe einer modernen Stickmaschine zu bitten. Die Firma war begeistert von dieser Idee, da so die angehenden Textildesigner*innen – potentielle Multiplikatoren – auf dieser Maschine ausgebildet werden und die Möglichkeiten ihrer Nutzung kennen lernen konnten. Dies führte zu dem sensationellen wie langfristigen Ergebnis, dass Sticken als zeitgemäße Veredelungstechnik heute Platz im Curriculum der Hochschule findet, die inzwischen eine eigene Maschine angekauft hat.
Im Kontext dieses Projektes spielte auch Reiner Knochel eine große Rolle. Er ist seit fast fünf Jahren freier Textilberater und zum Beispiel für den Garnhersteller GUNOLD unterwegs. Er versteht sich als Modebotschafter zwischen der Welt der Kreativen und der Techniker – Welten, die er beide sehr genau kennt. Viele Ideen zur Textilveredelung kommen aus der Haute Couture und dem kreativen Sektor und können die Material- wie Technologie-Hersteller zu Innovationen inspirieren. An den Schulen arbeitet Reiner Knochel, um schon in der Ausbildung Gelegenheit zu schaffen, den Horizont zu erweitern und die Wahrnehmung der gegebenen Möglichkeiten anzustoßen.
Das Thema Stickerei wird allgemein häufig als Kontroverse diskutiert, das angeblich authentischere Handsticken gegen die „seelenlose“ Maschinenstickerei. In der Runde wird darauf hingewiesen, dass professionelle Handstickerei wirklich harte Arbeit mit vergleichsweise wenig kreativem Anteil ist. Dementsprechend ist auch das Interesse für Materialneuheiten in diesem Bereich eher gering. Es lohnt sich, differenzierter auf diesen Aspekt zu schauen. Die moderne Stickmaschinen-Technologie bietet vor diesem Hintergrund genialen Fortschritt und damit große Erleichterungen. Die technischen Angebote der digital gesteuerten, handgeführten oder automatischen Stickmaschinen erlauben erstaunlich materialgerechtes und individuelles Arbeiten und sie fördern die kreative Suche nach neuen Potentialen. Laurent Progin beschreibt die neueste Generation von Stick- und Nähmaschinen, die es inzwischen auch kleinen Ateliers durch entsprechende Software erlauben, an den Segnungen der Digitalisierung in diesem Bereich teilzuhaben. Das Punchen – der Prozess der Übertragung von Entwurfszeichnungen oder Grafiken in ein Computerprogramm für die Stickmaschine – ist heute zumindest für weniger komplexe Motive und Muster ohne umfangreiche Schulung möglich und lohnt sich so schon im Einsatz für Kleinserien oder sogar Unikate.

Gesprächsrunde: Reiner Knochel, Bettina Göttke-Krogmann, Stefanie Seeberg, Silke Wagler; Laurent & Herman Progin

Immer bleibt die Sehnsucht nach dem Schönen und Besonderen und man kann eine allgemein wachsende Wertschätzung gegenüber der Handarbeit und der hingebungsvoll darauf verwendeten Zeit beobachten: Im DIY-Bereich z. B. wo „Sticken als das neue Yoga“ beschrieben wird. Der Trend zum Upcycling und ein wachsendes Umweltbewusstsein, die Abkehr der Konsumenten von „Fast Fashion“, eine zunehmend emotionalere Bindung an geliebte Dinge und Kleidung mit Geschichte greifen um sich.
Eine Stimme aus dem Publikum beschreibt die positiven Erfahrungen mit der Wirkung von textiler Handarbeit in der therapeutischen Projektarbeit, Erwachsenenbildung, im Altenheim und Kinderhospiz. Das Plenum ist sich einig, dass die Wiedereinführung des Handarbeitsunterrichts an Schulen ein Segen wäre, auch wenn 2/3 der Betroffenen vielleicht nichts damit anfangen können. Sie könnten zumindest echte eigene Erfahrungen damit machen und 1/3 wäre vermutlich doch zu begeistern und damit befähigt sich kreativ und individuell zu betätigen.
Wie zum Beispiel Juraté Ridziauskaité, die seit dem Jahr 2006 in einem schwarzen Baumwollrock ihre wichtigsten Ereignisse und Gedanken in Bildern und Worten festhält. Ohne Vorzeichnung stickt sie Motive in den Stoff. Verbergende Falten, Tragbarkeit und Stickmaterialien, darunter auch Haare, machen den Rock zum idealen Medium für eine ganz persönliche textile Dokumentation. Der Rock ist in der „History in Fashion“-Schau ausgestellt – ein zeitgemäßes Vorbild individueller Modeauffassung!

Bis zum 29. März 2020 “History in Fashion”

GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Johannisplatz 5–11, 04103 Leipzig

Öffnungszeiten Di–So, Feiertage 10–18 Uhr