Das 150-jährige Jubiläum der Gründung (2023) und Eröffnung (2024) des GRASSI Museums für Angewandte Kunst in Leipzig wirft seine Farben voraus. Was nach der grundlegenden Sanierung des Museumsbaus und der Neueinrichtung der Ständigen Ausstellung 2007 bis 2012 mit den farbig engobierten Terracottaplastiken des Bildhauers Robert Metzkes im Raum der Antiken als Idee seinen Anfang nahm, wurde in den folgenden Jahren immer wieder sporadisch aufgegriffen: Überraschende, manchmal auch irritierende Interventionen provozieren die Zwiesprache zwischen Zeiten und Künsten.
Die Ständige Ausstellung, in der chronologischen Ordnung ihrer Schätze, ist ein lebende Sammlung, die immer aktuell gehalten wird. Sie erfährt über die Zeit immer wieder Erweiterungen, den Austausch einzelner Objekte und nun, zum anstehenden Geburtstag, eine deutliche Infusion zeitgenössischer Kunst zur weiteren Steigerung ihrer Attraktivität.
Die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen ermöglichte dem Museum im Sommer 2023 mit einer Ankaufsumme von 26.000 Euro den Erwerb der Arbeiten von Hans Aichinger, Annette Schröter und Christoph Ruckhäberle um dieses absichtsvolle Anliegen zu realisieren. Museumsdirektor Dr. Olaf Thormann setzt als Intendant der Interventionen nicht nur auf die Integration von bestehenden Werken sondern darüber hinaus auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit direkt angesprochenen Künstlerinnen und Künstlern.
In einer Ausstellung der Leipziger Galerie Reiter entdeckte er das 2023 entstandene Gemälde „Die drei Fähigkeiten“ des Leipziger Malers und Grafikers Hans Aichinger. Das Portrait eines schönen jungen Mannes in Adidas-Jacke, mit aufgelegtem, üppigen Spitzenkragen, dessen Eitelkeit er durch die akribische Darstellung der Details grandios konterkariert. Als Modeaccessoire dienten Spitzenkrägen seinerzeit dazu den Kopf des Portraitierten als Sitz des Intellektes vom restlichen Körper abzuheben. Sie erfreuten sich vor allem in der niederländischen Portraitmalerei des 17. Jahrhunderts großer Popularität. Der kongeniale Ort für Hans Aichingers durchaus ironisch gemeintes Bild fand sich natürlich im schummrig schönen Spitzenkabinett der Sammlung, wo es nun unter anderem mit den textilen Kostbarkeiten der zauberhaften Spitzenkollektion um die Aufmerksamkeit der Besucherinnen und Besucher buhlt.
In einem besonders beredten Austausch befinden sich die schwarz-weißen Papierschnitte aus der Serie „Vor Schrebers Garten I und II“ (2020 – 2022) von Annette Schroeter. Sie entfalten ihren grafischen Zauber in Gesellschaft von preußischem Eisenkunstguss – Möbeln und Accessoires – der Schinkelzeit. Die Künstlerin entdeckte die Eingangspforten zu Kleingartenparzellen als wertvolle Inspirationsquellen. Auf langen Ausflügen zu Coronazeiten hielt sie deren individuellen Charme in ihrer Vielfalt fotografisch fest. Zuhause im Atelier befreite sie diese von den Vereinnahmungen der Natur und Zeit und transformierte sie in grafisch starke Scherenschnitte, die sie wiederum durch die Anordnung in Gruppen und Reihen in ihrem Ausdruck steigert.
Auch die bemalten Holzskulpturen aus der Reihe „Figur“ (2016) von Christoph Ruckhäberle finden einen kommunikativen Ort, zum Beispiel in unmittelbarer Nachbarschaft des Werkes von Hermann Glöckner, aber auch im Dialog mit der aus der Ferne herüber winkenden Malerei und Weberei der 1920er und 30er Jahre im Übergang des Ausstellungsrundgangs „Jugendstil bis Gegenwart“.
Der Leipziger Künstler Thomas Moecker übernahm die Aufgabe, aus Trümmer-Fragmenten historischer Glasmalereien vier neue Kompositionen zu schaffen. Er kombinierte die traurigen Zeugen einstiger Pracht mit unbemalten Flächen aus verschieden farbigem Glas und überführte das Fragmentarische der Spolien so in ein beredt-dekoratives Narrativ. Die 2021 geschaffenen Glasbilder wurden von Kathrin Rafoth, Erfurt, in Blei gefasst und schließlich in Lichtkästen eingebettet. An vier unterschiedlichen Positionen innerhalb der Ständigen Sammlung korrespondieren sie nun mit ihrer neuen Umgebung, die ihnen mit viel Bedacht zugewiesen wurde.
Neben diesen jüngsten Interventionen in die Ständige Ausstellung gibt es auch etabliertere Ergänzungen, die sich in ihrer Qualität überzeugend bewiesen haben und immer wieder den aufmerksamen Blick herausfordern.
Zwei wertvolle, großformatige Kaendler-Deckelvasen gehörten schon seit der Frühzeit des Museums in dessen Bestand. Den zweiten Weltkrieg überlebte nur ein wunderschön ausgebildeter, mit einem grazilen Porzellanblumen-Arrangement geschmückter Deckel, der allein jedoch nicht gezeigt werden konnte. 2017 sprach Olaf Thormann die im Jahr 2016 mit dem Grassipreis der Carl und Anneliese Goerdeler-Stiftung ausgezeichnete Keramik-Künstlerin Sarah Pschorn aus Leipzig an. Er bat sie darum, dem Deckel wieder eine Basis zu schaffen – wohlwissend einen Kontrapunkt setzend. Alte Fotografien der verlorenen Objekte inspirierten die junge Künstlerin zu einer voluminösen Material-Collage aus modelliertem Ton, Gips und zugeschnittenen Styroporblöcken. Diese diente als Gussform für das finale Volumen, das nun als schlohweisse Abstraktion des Vorbildes mit dem keck darauf trohnenden Porzellandeckel spannungsreich Zwiesprache hält.
Weitere keramische Werkzyklen kamen in den letzten zwei Jahren ins Haus und ergänzen die Sammlung in wunderbarer Weise.
Viele werden sich noch an die Ausstellung „L’Amour fou“ der niederländischen Künstlerin Carolein Smit im Jahr 2018 in der Orangerie des Museums erinnern. Faszination und Grusel fachte sie mit ihren außergewöhnlichen keramischen Totentänzen und martialischen Wesen aus den Zwischenwelten von Mensch und Tier an. Detailreiche Modellierungen und Strukturen, üppige Glasuren und schimmernder Lüster kennzeichnen ihren makabren Figurenkosmos, der die gleichzeitig düstere aber auch humorvolle Weltsicht der Künstlerin reflektiert. Als Hintergrund für das ehemalige Eisengittertor zum benachbarten Johannisfriedhof des Museums enstand eigens die Installation eines Totentanzes, ein monochrom weißer Ton-Reliefs vor blauem Hintergrund. Skelettierte Menschen und Tiere, tanzend in der Natur. „Erblühen und Verfall. Faszination und Abscheu. Wahres Gesicht und Maske. Macht und Absturz. Verführung und Verhängnis. Schönheit und Hässlichkeit.“ Dr. Olaf Thormann bringt es auf den Punkt: „Es sind Bildwerke, die das fassen, wofür uns oft Worte und Gedanken fehlen. Sie sind nicht bequem zu konsumieren, aber sie haken sich fest…“
Im vergangenen Jahr kam es zur Zusammenarbeit mit der Stuttgarter Keramikerin Ute Kathrin Beck. Anlässlich eines Besuches in Leipzig zeigte Olaf Thormann ihr die leere Predella des mittelalterlichen Kleinpötzschauer Altars, in der ursprünglich Schnitzfiguren der 14 Nothelfer standen, die heute als unwiederbringlicher Verlust zu beklagen sind. Zur GRASSIMESSE 2022 stellte Ute Kathrin Beck ihre großen und prächtigen Apostel-Gefäße im Kontext mit den mittelalterlichen Altären der Ständigen Sammlung aus. Für die verwaiste Predella hatte sie darüber hinaus 14 neue Nothelfer mitgebracht.
Trotz des Altersunterschieds von über 520 Jahren verschmelzen Retabel und Keramiken zu einer ästhetischen Einheit. Die Farbtöne sowie der Glanz der Glasuren reagieren auf die Altarfassung. Die Wölbungen und Kanten in den Gefäßwänden lassen an den Faltenwurf der ursprünglich dort platzierten Holzfiguren denken. Dieses überraschende Arrangement entfaltet eine geradezu beglückende Wirkung, jenseits einer unbedingt konfessionsgebundenen Religiösität, indem es ganz allgemein das spirituelle Bedürfnis der Menschen anspricht. Ute Kathrin Beck wurde mit dem Grassipreis der Sparkasse Leipzig ausgezeichnet. Noch während der Messe entschloss sich eine Besucherin aus Hamburg, den Ankauf der Nothelfer für das Museum zu ermöglichen.
Noch keine Gewissheit über den Verbleib am aktuell zugewiesenen Ort besteht für eine etwas überlebensgroße, männliche Holzfigur des Bildhauers Stephan Balkenhol. Diese wird unter einer holländischen Kanzel aus dem 18. Jahrhundert zu einem offensichtlich nachdenklichen Besucher. Als Teil der Szene scheint er in konzentriertem Austausch mit den Schnitzplastiken der Kanzel. Den auffordernden Gesten der Heiligen und Putti, von denen einer dynamisch über seinem Kopf davon schwebt, begegnet er offensichtlich mit zögerlicher Skepsis. Welche Botschaften wurden von dieser Kanzel verkündet? Entwischten uns diese dem Putto gleich? Diese Inszenierung bezieht die Figur Balkenhols, wie auch die Besucherinnen und Besucher, direkt mit ein. Sie konfrontiert uns mit einer Welt klerikaler Narrative christlicher Botschaften. Um diese eindrucksvolle Szene für den Parcours der Ständigen Sammlung bewahren zu können, wird noch eine Finanzierung der Balkenhol-Figur gesucht.
Gleichermaßen ungeklärt ist die äußerst provokante Situation der aktuellen Leihgabe „Deutsche Vase“, die mit einem zugehörigen Hammer in der Großvitrine mit den Glasarbeiten von Wilhelm Wagenfeld für die Vereinigten Lausitzer Glaswerke steht. Sie kontextualisiert die Namen der großen Bodenvasen „Berlin“, „München“ und „Wien“ sowie die nebenan präsentierten Porzellane von Hermann Gretsch.
Des weiteren ein kleine, zuerst unscheinbare Installation eines Stilllebens aus Altglasscherben im großbürgerlichen Ambiente der Räume zum Historismus – im Diskurs mit einem opulenten Glas-Kronleuchter und einer makellos weißen Frauenbüste, die das Schönheitsideal jener Jahre perfekt widerspiegelt.
Im zweiten Teil der Ständigen Ausstellung „Asiatische Kunst“, auf der Galerie der Pfeilerhalle, wird in sechs großen Vitrinen die Entwicklung der chinesischen Keramik anhand ausgesuchter Meisterwerke dokumentiert. Ihnen gegenüber hängen nun große bemalte Porzellanplatten des chinesischen Zen-buddhistischen Mönchs Tongming Xie, der sie dem Museum im Jahr 2021 als Schenkung überließ. Sie entstanden in den Jahren 2014–2016 in Jingdezhen, als Serie leicht karrikaturhafter Darstellungen von Arhats – Zen-Praktizierende, die Gier, Hass und Verblendung hinter sich gelassen haben und das Nirwana erreichen.
Das Zusammenrücken von Kunst, Design und Handwerk ist in den letzten Jahren als internationaler Trend wahrzunehmen. Offener Austausch und gegenseitige Inspiration nivellieren die, vor allem im 19. Jahrhundert geschaffenen, Abgrenzungen. Die hier vorgestellten Artefakte stellen ihre Botschaften zu den Themen unserer Zeit in den Fokus. Ihre klug gewählten Nachbarschaften in den Ständigen Ausstellungen animieren die Besucherinnen und Besucher dazu, nicht nur das Einzelne, sondern das Gesamte zu betrachten und ihre Schlüsse daraus zu ziehen.
Die engagierte Aufwertung der Ständigen Ausstellungen des GRASSI Museums für Angewandte Kunst bekommt vor dem Hintergrund, dass ab dem 1. Januar 2024 hier für die kommenden drei Jahre freier Eintritt für alle gelten wird, eine besondere Bedeutung.