Hintergrund

Expressionismus und Art déco – ein stilistisches Phänomen

In seinem Vortrag „Expressionismus und Art déco“ widmete sich Dr. Rüdiger Joppien inmitten des für diese Zeit sensationellen „Exponats“ – nämlich der Pfeilerhalle (Fertigstellung 1927) des Grassimuseums in Leipzig mit der aktuell in den Vitrinen arrangierten Ausstellung „Spitzen des Art déco“ – einem stilistischen Phänomen, das im gegenwärtigen Rückblick auf das erste Drittel des 20.  Jahrhunderts nur eine periphere Rolle spielt. Die Reformen der Bauhausschule, in ihrer bis heute wirkenden Aktualität gerade noch durch das 100. Jubiläumsjahr 2019 spektakulär aufgefrischt, dominieren unser Bild jener Zeit. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen gab Rüdiger Joppien zu, dass er sich bei der Formulierung seines Themas der Tragweite nicht bewusst war und konstatiert: „Das Thema schreit nach Forschung!“

Dr. Rüdiger Joppien | Foto: SvGwinner

Im Zentrum seiner Betrachtungen standen die 1920er Jahre, also die Zeit der Weimarer Republik. Eine facettenreiche Ära voller kultur- und kunsthistorischer Widersprüche, die sich natürlich in den gesellschaftlichen Strömungen widerspiegelten. Der Mainstream bürgerlicher Teilhabe an Kultur und Kunst entwickelte sich aus der stilistischen Üppigkeit der Gründerzeit und wurde bereits vor 1914 z. B. von den Künstlern der „Brücke“ und des „Blauen Reiters“ gebrochen und als Expressionismus bekannt. Der Begriff des „Art déco“ ist eine Wortschöpfung, die erst seit 1968 gebräuchlich ist und aus der Abkürzung der 1925 in Paris veranstalteten „Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes“ entwickelt wurde, die luxuriöse Objektkunst für eine verwöhnte Gesellschaft präsentierte. Zur Pariser Art déco-Ausstellung war Deutschland so spät eingeladen worden, sodass eine vernünftige Vorbereitung ausgeschlossen war. Gleichwohl entwickelte sich im Laufe der 1920er Jahre auch in Deutschland mit dem Art déco eine neuer Stil oder ein Ornamentsystem, das sich vieler Einflüsse bediente.

Porzellanfiguren, Entwürfe Hugo Meisel & Arthur Storch, beide Rudolstadt/ Thüringen 1921 | Ausführung Aelteste Volkstedter Porzellanfabrik 1921 | glasiertes Porzellan | Schenkung Edmund Troester 1926 | Foto: SvGwinner

„In der kunstgeschichtlichen Erinnerung Deutschlands blieb das Bauhaus das prägende Ereignis auf dem Gebiet der angewandten Kunst, gegen das andere Phänomene wie das Art déco völlig verblassten. Dies ist insofern verständlich, als das Bauhaus in seinen 14 Jahren […] eine rasante Entwicklung durchlief, mit seinen Lehren schon damals die Avantgarde anführte, international ausgerichtet war und eine Bewegung des Designs einleitete, die nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend an Bedeutung gewann. Dagegen waren Expressionismus und Art déco Stilphänomene, die in der Rückschau eher als dekorativ und heterogen wahrgenommen wurden. Das kunstgeschichtliche Bewusstsein für ihre Werke blieb lange Zeit gering, sicher auch, weil die angewandte Kunst hierzulande wenig Anerkennung genießt.“, bemerkte Rüdiger Joppien und wies darauf hin, dass erst die Dissertation „Art déco in Deutschland“ von Catharina Berents 1998 von diesem überlieferten Geschichtsbild abweicht und nachweist, dass es neben dem Bauhaus tatsächlich starke Tendenzen des Art déco gab.

Pfeilerhalle GRASSI Museum für Angewandte Kunst Leipzig
Pfeilerhalle GRASSI Museum für Angewandte Kunst Leipzig

Die Pfeilerhalle des Grassimuseums aus den Jahren 1925 bis 1927 ist eines der Beispiele zur Stützung dieser These. Gerade in Leipzig, in einer der wohlhabendsten Handelsstädte Deutschlands jener Zeit, oft auch als „Petit Paris“ tituliert, lebte eine kulturell aufgeschlossene Gesellschaft, innerhalb derer deutsches Art déco Resonanz und Verbreitung fand. Rüdiger Joppien verweist hier auf das aufschlussreiche Buch von Wolfgang Hocquél: “Art déco – Architektur und Kunst der Goldenen Zwanziger Jahre in Leipzig“.

Mit einer Fülle von Objektbeispielen (viele davon aus dem Bestand des Museums) illustrierte Rüdiger Joppien seine Ausführungen zu Stil und Ikonographie des deutschen Art déco. Gestaltungsmerkmale des

Dosen mit Zackendekor, Porzellanfabrik Erdmann Schlegelmilch; Suhl um 1930 | Porzellan, handbemalt | Slg. Dr. Peter W. Schatt | Foto: SvGwinner

Expressionismus wie auch andere Einflüsse, z. B. aus dem Manierismus, dem Rokoko oder dem Japonismus und Orientalismus, der Wiener Werkstätten usw. wurden damals fantasievoll und kreativ adaptiert und fortgeführt. Doch die Heterogenität der diversen dekorativen Manifestationen dieser Ära macht es wirklich schwer ein einheitliches Bild jener Stilepoche zu beschreiben. Hier „dürfte auch eine Rolle spielen, dass Deutschland in den zwanziger Jahren aus einer Zahl kulturell unterschiedlich geprägter Teilstaaten oder Länder bestand und die Entscheidungen über Kunst und Geschmack nicht wie in Frankreich zentral in einer Hauptstadt, sondern in der Provinz, in Thüringen oder in der Oberpfalz, getroffen wurden, wo Geschmackstraditionen unter Umständen länger fortbestanden“, gibt der Referent zu bedenken.

Kristallglas-Schale, Alfred Krause, Glasraffinerie Steinschönau (Nordböhmen) 1922 | geschliffen, Emailmalerei, Goldrand | Foto: SvGwinner

Doch das besondere Augenmerk – wieder belegt durch eine beredte Reihe von Objekt- und Architekturbeispielen – legt er schließlich auf die Assimilation von Art déco und expressionistischen Tendenzen. Auf die Entwicklung des „Zackenstils“ hin zu einer modischen Attitüde, die er zurückführt auf die Einflüsse des Kubismus, den Trend zur künstlerischen Überwindung der Perspektive, der Zersplitterung der Gegenstandswelt in der Malerei, ursprünglich „als Protest gegen alles Glatte, Schöne und Dekorative“ gemeint, wurden „Zacken und Zickzack-Motive zum Signum der Zeit.“ Mit einer faszinierenden Sicherheit navigiert Rüdiger Joppien durch die Kunst-, Kultur- und Architekturgeschichte um treffsicher Belege und Beweise zu präsentieren. Bis hinein in das Detail einer Anekdote, eines schlüssigen Zitats der Protagonisten oder eigener feinsinniger Schlussfolgerungen aus der zu Rate gezogenen Literatur gelingt es ihm den divergenten Zeitgeist der zwanziger Jahre für sein Publikum anschaulich wiederauferstehen zu lassen.

Dosen, Duxer Porzelln-Manufaktur AG (Böhmen) | Weichporzellan, handbemalt, Golddekor | Slg. Dr. Peter W. Schatt | Foto: SvGwinner

Schließlich wandte er sich den Exponaten der Ausstellung zu: „Geht man davon aus, dass im Normalfall epochale Kunstwerke abseits der Massen entstehen und ihrer Zeit visionär voraus sind, so trifft dies für die gezeigten Porzellan-Beispiele nicht zu. Stattdessen haben wir es mit Manifestationen kommerziell-künstlerischen Schaffens zu tun, die den Volksgeschmack reflektierten. Statt Kritik zu provozieren, affirmierten sie den bürgerlichen Lebensstil und boten sich als Projektion aller Art von Sehnsucht an. Dabei ging es um privates Glück, Fantasie und Sinnenfreude, Erotik und Exotik, um Formenvielfalt und Farbe, kurzum um etwas „Schönes“. Ich denke, dass viele dieser Objekte – bewusst oder unbewusst – der Bewältigung des Kriegstraumas dienten und nach dem Zusammenbruch Wünsche nach Sicherheit, Harmonie und Frieden befriedigten.“

Rüdiger Joppiens Vortrag, bestechend in seiner Dichte an Informationen und Hinweisen zur kulturellen Gesamtschau eines so dramatisch flackernden historischen Zeitfensters, legt offen, dass „weder die stilistische Vielfalt der Porzellane noch ihr soziologischer Stellenwert bisher hinreichend reflektiert wurden – als Objekt der Alltagsforschung warten sie noch auf Entdeckung.“

Die Sonderausstellung “Spitzen des Art déco” wird noch bis zum 11. Oktober 2020 im

GRASSI Museum für Angewandte Kunst
Johannisplatz 5-11, 04103 Leipzig

zu sehen sein. Das Museum ist aktuell bis voraussichtlich 10. April 2020 geschlossen.

Für Di., 26.05. ist von 18:00 – 19:30 Uhr ein weiterer Vortrag angekündigt:
“Art déco. Mehr als eine Modeerscheinung” mit Bernd Sikora; der Eintritt ist frei