Der Blick zurück in die Geschichte der Kunstgewerbemuseen erinnert daran, dass ihr Gründungsauftrag sie dazu bestimmte, kulturhistorische Vorbilder und Anregungen von und für Handwerk, Gewerbe und Industrieproduktion zu sammeln und zu dokumentieren. Dieser Auftrag gilt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und den Bibliotheken fällt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu. Zu seiner Gründung 1874, als zweitem Kunstgewerbemuseum in Deutschland, konnte das heutige GRASSI Museum für Angewandte Kunst teilweise die Bestände des Leipziger Vereins Vorbildersammlung (seit 1859) als eine Grundlage für seine Bibliothek übernehmen und letztlich bis in die Gegenwart fortführen: angewandte Grafik, Ornamentstiche und Beispiele der drucktechnischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts über die Lithographie bis zu den Zeitschriften, aber auch Buntpapiere, Handpressendrucke, Künstlerbücher, originalgrafisch illustrierte Bücher, Einbände und vieles mehr aus allen Epochen wird in der Bibliothek und grafischen Sammlung bewahrt und erschlossen.
Der Hinweis eines Freundes führte Eberhard Patzig, der an der damaligen Karl-Marx-Universität Germanistik und Geschichte studiert und zwei Jahre als Deutsch- und Geschichtslehrer gearbeitet hatte, ins Museum. Er wurde nach einer nachgeholten Diplomverteidigung eingestellt und durch die damalige Bibliothekarin Christa Pässler angeleitet. „Ich lernte Signaturen mit Tusche schreiben“ und „old school“, so sagt er, „heute mit der Digitalisierung ist das alles obsolet.“ Mit ihrem Ausscheiden 1988 übertrug man ihm die Leitung der Bibliothek*. Parallel absolvierte Eberhard Patzig an der Humboldt-Universität zu Berlin einen postgradualen Abschluss als wissenschaftlicher Bibliothekar und war damit auch offiziell bestens gerüstet.
Seit einer Heizungshavarie 1981 war der Ausstellungsbetrieb im Gebäude des Grassimuseums weitgehend lahmgelegt und wurde erst 1994 auf einer bescheidenen Fläche in fünf erneuerten Räumen wieder aufgenommen. Die Verwaltung der Bibliothek war im Erdgeschoss angesiedelt, wo die Raumnot des Museums dazu geführt hatte, Möbel aus der Sammlung aufzustellen und zu nutzen. Ende der neunziger Jahre entwickelte das Team des britischen Architekten David Chipperfield einen Masterplan für die Erneuerung des Grassimuseums, was Eberhard Patzig als Glücksumstand beschreibt. „Es wurde detailliert nachgefragt, was nötig sein würde und, entsprechend großzügig, wurden technisch und organisatorisch notwendige Räume geplant.“ Doch das von Chipperfield geplante Budget zur Rekonstruktion des Grassimuseums, die von 2000 bis 2005 erfolgte, wurde von den politisch Verantwortlichen halbiert. Für den Zeitraum des Umbaus zog man Anfang 2001 inklusive Bibliothek ins Interim in der Leipziger Innenstadt.
Die Rückkehr in das neue Depot der Bibliothek glich einem Paradigmenwechsel. Ausgestattet mit jederzeit leicht erreichbaren, fahrbaren Rollregalen unterschiedlicher Tiefe bewahrt es das Sammlungsgut vor Staub und Licht. Es beherbergt neben der Fachbibliothek von etwa 75.000 Bänden insgesamt an die 50.000 Sammlungsobjekte (Druckgrafik, Zeichnungen, Fotografie, historisch und künstlerisch sammlungsrelevante Objekte in Buchform). Nahezu wöchentlich eingehende Schenkungsangebote bringen zwar die Kapazitäten an ihre Grenzen, bereichern aber auch die Sammlungen um wertvolle und kostbare Objekte und Objektgruppen. Bei jüngeren und jüngsten Schenkungen gelangten so nicht nur Druckgrafiken und teils auch deren Vorzeichnungen und Entwürfe in den Bestand, sondern auch die Dokumente ihrer Entstehung, Holzstöcke für den Holzschnitt und Kupferplatten für Stiche und Radierungen. „Damit steht nicht nur die Schönheit der fertiggestellten druckgrafischen Objekte im Vordergrund, sondern auch die Aspekte ihrer Genese, des Handwerklichen und Prozesshaften finden Berücksichtigung, was den Intentionen einer alten kunstgewerblichen Sammlung in moderner Zeit kongenial entspricht.“, bemerkt Eberhard Patzig.
„Jedes Objekt hier generiert seine eigenen Geschichten, die nur gehoben werden müssen.“, schwärmt er und ist damit in seinem Element. Für meinen Besuch hat er einige Beispiele bereitgelegt, künstlerische Werke und Zeitdokumente, die seinen Forschergeist erheblich herausgefordert haben und deren eigensinnige Aura und Ästhetik ihn fasziniert.
Zu den ältesten Schätzen der Bibliothek gehört beispielsweise ein berühmter Roman der Renaissance, die Hypnerotomachia Poliphili des – wissenschaftlich umstrittenen – Autors Francesco Colonna, Satz und Holzschnitt-Illustrationen im Druck von Aldus Manutius, 1499 in Venedig entstanden. Die Initialen der Kapitel ergeben den laufenden Satz „Francesco Colonna hat Polia sehr geliebt“, man könnte dies auch als Signatur bezeichnen. Die Schönheit der Typografie ist bemerkenswert, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Erfindung Gutenbergs noch keine 50 Jahre zurück lag. Der Einband wurde durch Museumsdirektor Graul um 1900 als Fälschung erkannt und durch einen zeitgenössischen Einband ersetzt – was allerdings auch bedeutete, diesem Exemplar ein Stück seiner Historie wegzunehmen. Wie wichtig jedes einzelne Detail zur Entschlüsselung eines jeden Objektes ist, verrät Eberhard Patzig in spannenden Geschichten und Anekdoten zu seinen Forschungen an den Beständen wie zu den Neuankömmlingen. In jedem Werk enthüllt er einen neuen Kosmos, unglaubliche Zusammenhänge und überraschende Entdeckungen, die seine ansteckende Begeisterung wecken.
Im Laufe der Jahre war Eberhard Patzig auch kuratorisch tätig: 1994 führte er eine Auswahl des, nahezu vollständig in der Sammlung vorhandenen, druckgrafischen Werkes des italienischen Künstlers Giovanni Battista Piranesi in einer Ausstellung zusammen. Dieses riesige Konvolut war ursprünglich in einem Stahlschrank des Depots gelagert, wo hohe Luftfeuchtigkeit zu Schimmelbefall geführt hatte. Eine kleine Serie von Piranesis Ansichten der Stadt Rom, ihren antiken Überresten und urbanen Strukturen, sorgfältig gereinigt und in Passepartouts präsentiert, gehört bis heute zu den Highlights der Ständigen Ausstellung. Sie dienten im 18. Jahrhundert z. B. als Vorlage für gemalte Tapeten, wie jene aus Schloss Eythra südlich von Leipzig, die ebenfalls heute im Museum zu sehen sind und die das immerwährende Interesse an Piranesis Kunst und an den Bauten der Antike beispielhaft verdeutlichen.
Dem ersten kommerziell nutzbaren Fotografie-Verfahren im 19. Jahrhundert, der nach dem französischen Maler Louis Jacques Mandé Daguerre benannten Daguerreotypie, war Anfang der 2000er Jahre eine Bestandserschließung gewidmet, die in der Verantwortung von Eberhard Patzig lag, und 2004 in die repräsentative Publikation Der gefrorene Augenblick mündete (eine Kooperation zweier Leipziger Museen, je eines Museums in Dresden und Plauen unter Leitung von Jochen Voigt, Chemnitz). Eine große Bestandsausstellung japanischer Farbholzschnitte, Katagami und Rollbilder im Jahre 2009 präsentierte eindrucksvoll diese Sammlungsfacette des Hauses. In einer direkten Kooperation dreier Leipziger städtischer Museen zur Fotografie seit 1839 übernahm das GRASSI Museum für Angewandte Kunst den historischen bzw. ältesten Teil des Projektes. Mit jeder dieser Ausstellungen erhielt Eberhard Patzig eine willkommene Gelegenheit, Schätze aus dem von ihm betreuten Bestand vorzustellen. Viele weitere Themen fallen ihm ein, die mit kostbaren Artefakten aus der grafischen Sammlung und der Bibliothek dargestellt werden könnten.
Über die 38 Jahre seines Wirkens hat Eberhard Patzig die bibliophile Sammlung des GRASSI Museums für Angewandte Kunst in alle Richtungen durchdrungen und ihre kulturgeschichtlichen – inhaltlichen wie gestalterischen – Bedeutungen und Besonderheiten erfasst. Er entlockt seinen „Schützlingen“ jede Antwort zu dem Rätsel, das sie auf den ersten und zweiten Blick stellen mögen. „Man muss sich etwas einfallen lassen, man darf sich nicht entmutigen lassen, man muss beharrlich bleiben – das schätze ich so sehr an dieser Arbeit!“.
Schließlich stellt er mir noch ein unscheinbares Bändchen vor, das als Schenkung des Sammlers Peter Neumann aus Saarbrücken in den Bestand des Museums gelangte. Es handelt sich um eine volkstümliche Bilderbibel, die mit Bilderrätseln die Assoziationsfähigkeit herausfordert, indem Kernwörter in den Texten durch Bilder ersetzt werden: “Dem Gemüth zur Ergötzung/der lieben Jugend zur Erlernung eines jeden Dinges/mit seinem rechten Namen zu benennen…“, verlegt 1720 in Nürnberg durch den Verlag Johann Hoffmann. „Was gibt es in Deutschland für einschlägige Sammlungen?“ fragte sich Eberhard Patzig und sprach seine Kollegen in deutschen Bibliotheken und Museen an. Er befragte die elektronischen, auch internationalen Kataloge. Ohne Erfolg! Von dieser Edition hat keiner Kenntnis. So kann es wohl als das Letzte und Einzige gelten, das nicht in einem Antiquariat in seine Einzelseiten aufgelöst wurde oder zerlesen und verbraucht den Weg alles Irdischen ging. Diese Entdeckung erfüllt Eberhard Patzig mit berechtigtem Stolz, genauso wie die vielen anderen Kuriositäten, die er entschlüsselte und Puzzleteile der Objektgeschichten quasi erfolgreich zusammenfügte.
Im vergangenen Jahr konnte das Museum einen hochwertigen Scanner anschaffen – perspektivisch wird man die Objekte dann auch ins Netz stellen und für jedermann zugänglich machen können. Eberhard Patzig freut sich über diese Aussicht, dass die sonst eher verborgenen bibliophilen Schätze so veröffentlicht werden. Eine vielversprechende Perspektive, die das Wissen und Engagement des im Juni 2021 in den Ruhestand ziehenden Leiter der Bibliothek und grafischen Sammlung wenigstens in den Legenden und Kommentaren zu den Artefakten wird vermitteln können, auch wenn er selbst nicht mehr mit dieser Veröffentlichung befasst sein wird.
Regulär hat die Bibliothek des GRASSI Museums für Angewandte Kunst folgende Öffnungszeiten: Mi + Do: 13–18 Uhr