Unsere Sehnsucht nach Farbe, Licht und Feuer könnte kaum größer sein als in diesen neblig trüben Schneeregentagen eines langen Pandemiewinters! Dennoch, die vielversprechend betitelte Ausstellung „MURANO – Farbe Licht und Feuer“ erwartet uns weiterhin geduldig in den, immer noch dunklen, Vitrinen der Pfeilerhalle des GRASSI Museums für Angewandte Kunst.
Über vier Jahre ist es her, dass die international bedeutende Muranoglas-Sammlung des Berliner Unternehmers Lutz H. Holz 2016 in der Neuen Sammlung Design Museum München und im Bröhan Museum Berlin für Schlagzeilen sorgte. Hier wurden handverlesene Destillate aus dieser Kollektion von insgesamt über 1.000 Stücken zu unvergessenen Inszenierungen zusammengestellt, deren Attraktion sich aus der Zwiesprache eindrucksvoller Exponate Muraneser Glaskunst mit dem Raum und Licht einer außerordentlichen Situation speiste.
Ein solches Highlight, mithin ein Kabinettstück, erwartet uns nun schon seit dem 07.11.2020 in Leipzig!
“Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht“ schrieb J.W. von Goethe am 24. April 1819 an Friedrich von Müller und mich lässt diese spruchreife Erkenntnis zum einladend gestalteten Katalog der Ausstellung greifen. Großzügig bebildert begleitet er diese Premiere in Leipzig, wo es bisher – der Geschichte geschuldet – noch keine vertiefende, größere museale Glas-Präsentation gab.
Die Kuratorin Dr. Stefanie Seeberg führt, dicht an die Sammlungsgeschichte des Museums gelehnt, in die Ausstellungskonzeption und Techniken ein. Der international ausgewiesene Experte für die jüngere Geschichte des Muranoglases, der belgische Galerist Marc Heiremans, konnte für den kompakt verfassten historischen Überblick „Murano: Wiedergeburt und Weiterentwicklung“ gewonnen werden. Dieser sorgfältig bereitete Hintergrund lässt die Leser*innen im Folgenden die Besonderheit des Konzeptes der Leipziger Schau erkennen. Es wird ihnen nicht abverlangt, sich gleich mit der gesamten Prominenz des zurückliegenden Muranoglas-Zeitalters auseinander zu setzen – doch es kann durchaus dazu inspirieren!
Der Fokus von „MURANO – Farbe Licht und Feuer“ liegt auf dem Werk von zwei ausgewählten, herausragenden Glas-Technikern und Gestaltern: Ercole Barovier – der Glasmeister des 20. Jahrhunderts – wird im Katalog wieder durch Marc Heiremans umfassend vorgestellt. Die außerordentliche Künstlerpersönlichkeit des Japaners Yoichi Ohira – der Weg ins 21. Jahrhundert – lernen wir durch die begeisterten Worte des Brüssler Galeristen Pierre Marie Giraud kennen.
Mit seiner bemerkenswert gestalterischen Begabung zählt Ercole Barovier, Kind einer uralten Glasmacherfamilie Venedigs, von 1924 bis 1974 zu den bedeutendsten Akteuren der Muraneser Glaskunstproduktion des 20. Jahrhunderts. In enger Kooperation mit seinen Meister-Glasbläsern entwickelte er eine Fülle innovativer Produktionstechniken, aus der Praxis heraus, am Ofen, in der Anwendung selbst, die zu einer Vielfalt neuer Glassorten und Färbungen führten.
Im Jahr 1973 kam Yoichi Ohira nach Venedig und nach Murano, wo er bis 2010 blieb, um eines der bemerkenswertesten Œuvre der zeitgenössischen Glaskunst zu vollenden. Seine Wertschätzung der venezianischen Glastradition in ihrer reinsten Prägung lässt ihn an einer klassischen Formensprache festhalten und gleichzeitig die Grenzen des materiell Machbaren suchen. Gemeinsam mit dem Glasbläser Livio Serena, dem Schleifer und Graveur Giacomo Barbini sowie dem Entrepreneur Renzo Ferro als Eigentümer der Manufaktur Anfora bildet er das „Murano Quartett“ dessen Werke beispiellos in der Geschichte Venedigs sind.
Die vergangenen Dekaden der Glaskunst Muranos wurden davon geprägt, dass nicht mehr die Manufakturen die Künstler engagierten, sondern dass die Künstler sich die besten Manufakturen zur Zusammenarbeit auswählten. Dieses Prinzip bereitete einem unglaublich kreativen Potential den Boden und trug zur entscheidenden Wiederbelebung der venezianischen Glaskunst bei. Die quasi beispielhafte Gegenüberstellung beider Künstlerpersönlichkeiten in dem vorliegenden Katalog stellt die Leser*innen mitten hinein in die lebhaft geschilderten Zusammenhänge der Kulturgeschichte des Muranoglases.
Der üppige Bilderkatalog lässt die besondere Originalität der Glasobjekte, den virtuosen Geist ihrer Schöpfer, ihre meisterhafte Beherrschung des Handwerks, erahnen: Die multiple Raumwirkung als dreidimensionale Form, im Wechselspiel mit der Transparenz fragmentierter, gemusterter, strukturierter Oberflächen, in der Durchdringung von opak und durchsichtig oder sogar optisch verfremdender Effekte. Im dreidimensionalen Schmelz kleinster Farb- und Pulverpartikel, gefangener Luftbläschen oder der Eigentümlichkeit geometrischer, organisch verzogener Farbflächen, die die geblasene Glasform umschreiben.
Das ist es auch, was den Sammler Lutz H. Holz so sehr fasziniert, wie er in einem Interview bekennt: „Für mich ist es das Objekt an sich. Spannend am Material Glas ist, dass es transparent, aber auch opak sein kann. Es gibt Stücke, die spiegeln vor, aus Porzellan zu sein oder aus Marmor. Und je nachdem wie das Licht auf die Gläser fällt, sehen sie völlig anders aus.“
Ein Fest für die Augen, das erst in der realen Gegenüberstellung von Objekt und Betrachter, wenn Bewegung, Licht und Schatten als elementare Protagonisten zusammenspielen, seine ganze Sensation entfaltet.
Vorfreude soll ja die schönste Freude sein!
Der zweisprachiger Katalog zur Ausstellung erschien im Sandstein-Verlag mit 156 Seiten und 359 farbigen Abbildungen, ISBN 978-3954985715, zum Preis von 24 €.
In Halle 9 der TECHNE SPHERE LEIPZIG werden zwei berühmte Architekten gewürdigt: Carlo Scarpa (1906–1978) und Tomaso Buzzi (1900–1981), die sich zu Beginn ihrer Karrieren ab 1920 intensiv mit der Muraneser Glaskunst beschäftigten und diese maßgeblich beeinflussten. Es ist geplant, ausgewählte Objekte nach ihren Entwürfen bis zum 31.03.2021 in der Halle 9 der TECHNE SPHERE LEIPZIG zu zeigen.