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Die Zukunft des Sammelns – das Museum für angewandte Kunst Morgen

Anlässlich seines 150-jährigen Jubiläums lud das GRASSI Museum für Angewandte Kunst zu einem Symposium mit Vorträgen und Diskussion zum Thema „DIE ZUKUNFT DES SAMMELNS“. Das Museum für Angewandte Kunst morgen“ ein. Der Festvortrag von Prof. Birgitt Borkopp-Restle über die Historie der Museen für Angewandte Kunst und deren Sammlungspolitik seit den ersten Gründungen bildete dabei den Auftakt. Sie schilderte die Motivationen der Museumsleiter, ihre sich ändernden Ambitionen und Optionen sowie die wechselnden Beziehungen von Kunst und Gewerbe im Lauf der Zeit. Dieser äußerst fundierte Vortrag stimmte das Auditorium adäquat auf die sechs folgenden Impulsvorträge ein. Dr. Olaf Thormann, der Direktor des Hauses, führte vorab in die Geschichte und Situation seines 150 Jahre jungen Museums ein und beleuchtete damit quasi exemplarisch die Relevanz der folgenden Impulsvorträge zur Sammlungsthematik. Der Fokus dieser Veranstaltung lag auf Museen der angewandten Kunst und ihren spezifischen Anforderungen.
Dieser Beitrag fasst die sechs Impulsvortäge zusammen.

Impuls1: Sammeln

Depot GRASSI Museum für Angewandte Kunst Leipzig | Foto: GRASSI MAK Leipzig

„Vom Sammeln: Anmerkungen zur Ästhetik und Praxis des Ordnens und Bewahrens“ titelte Dr. Sibylle Hoimann, seit Frühjahr 2023 Direktorin des Kunstgewerbemuseums Berlin, ihren Impuls. Für sie lautet der mit ihrem Stellenantritt verbundene Auftrag explizit, eine Neupositionierung ihres Hauses am Kulturforum zu organisieren. Sie begreift das Museum selbst „als eine Institution, die sich umfassend der gestalteten Lebenswelt in allen Facetten widmet. Als Teil der Diskurse muss es sich mit den sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen auseinandersetzen und sich den brennenden Fragen unserer Zeit stellen.“ Das Sammeln stellte sie als Ursprung und Kernaufgabe aller Museen heraus, das, an der wechselvollen Geschichte des Berliner Museums anschaulich beschrieben, ursprünglich als Vorbildsammlung, als Universalmuseum nach dem Vorbild der Weltausstellungen gedacht war.
Die Kriterien des Sammelns wurden und werden von ungezählten, unterschiedlichen Aspekten beeinflusst, vorneweg vom Zeitgeist, den sich wandelnden Moden, der Politik, und der sich verändernden Gesellschaft als Auftraggeberin.
Sie stellte fest, dass Museen heute überwiegend Sammlungen sammeln. Sie sind ohne nennenswerte Erwerbungsetats oftmals vom Zufall abhängig und dem Kunsthandel ausgeliefert. Gegenwärtig, angesichts übervoller Depots und leerer Kassen, und erst recht in Zukunft, stellen sich nicht nur für die Referentin dringliche Fragen deren Antworten offen sind: Was sammeln wir? Wie sammeln wir und weshalb? Sollten wir nur noch verwalten und ergänzen? Müssen wir alles auch besitzen? Alle sammeln alles – ist das notwendig? Sollte man sich strategisch abstimmen anstatt zu konkurrieren? Wäre es nicht klüger, die Konkurrenz der Museen zu vermeiden, die Sammlungen virtuell zu vernetzen und den Tauschhandel untereinander zu befördern?

Impuls 2: Nachhaltigkeit
„Unsere Schätze erdrücken und verwirren uns“ – Nachhaltig Sammeln im Museum“ formulierte Dr. Nina Schallenberg, aktuell Leiterin des Bereichs Ausstellungen am Jüdischen Museum Berlin, die Headline für ihren Impulsvortrag. Seit 2020 engagiert sie sich vehement für mehr Nachhaltigkeit im Museumssektor. Sie fragt, welchen Anteil die Museen mit ihrem Auftrag zu bewahren, auszustellen und zu vermitteln, am nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel haben können. Und wie der Kernauftrag des Sammelns, dessen Dynamik sich aus der Idee des Wachstums ergibt, nachhaltig gedacht werden kann. Die Grenzen des Wachstums hat uns schon der Bericht des „Club of Rome“ 1973 aufgezeigt und eigentlich scheint sich die Kritik an der Idee des Wachstums heute etabliert zu haben.

Doch z. B. die Option des Verkaufs musealer Objekte zu Gunsten der Platzgewinnung, der Finanzen und der Qualität der Sammlungen wird spätestens seit dem 27. Februar 1972, als der Kunstkritiker John Canaday in einem Artikel der New York Times mit dem Titel „Very Quiet and Very Dangerous“ den angeblichen Verkauf vieler prominenter Kunstwerke durch das Metropolitan Museum of Art anprangerte, sehr kontrovers diskutiert. Mit einer Fülle beispielhafter Zitate, sowie anschaulich in Grafiken dargestellten, aktuellen Untersuchungsdaten illustrierte die Referentin die Klage, dass unser Erbe erdrückend sei, wie Paul Valéry es in „Le problème des musées“ schon 1923 beschreibt: „Der Mechanismus von Schenkungen und Vermächtnissen, die Kontinuität der Produktion und der Käufe – und diese andere Ursache für den Zuwachs, die auf Änderungen der Mode und des Geschmacks zurückzuführen ist. … unsere Schätze erdrücken und verwirren uns!“

Zur Zeit der frühneuzeitlichen Kunstkammern, in denen sich die Idee des Universums abbilden sollte, wurden bestimmte Bereiche durch ein Exponat ausreichend dokumentiert – es gab also eine konzeptuelle Obergrenze der Sammlung. Doch im 17. und 18. Jahrhundert stieg das wissenschaftliche Interesse und die strukturelle Art der Sammlungen veränderte sich. Es ergab sich die Steigerung der Objektmengen durch das typologische und historische Ziel – die möglichst vollständige Darstellung. Im 19. Jahrhundert wurden schließlich die Museen zu den Orten, wo man das historische Erbe bewahrte und sichtbar machte „bis in die Ewigkeit“.

Welches Bild ergibt sich heute, wie steht es um die Sammlungskonzepte der Museen?
Es ging der Referentin darum, die Ideale von Fülle, Vollständigkeit und Ewigkeit angesichts der zur Verfügung stehenden Ressourcen zu hinterfragen. Sie hielt ein Plädoyer für klare Sammlungsstrategien, in denen formuliert wird, wohin sich eine Sammlung entwickeln sollte, die ihre Stärken und ihre Lücken benennt. Sie hielt es für unrealistisch, dass alles in den Institutionen bleibt – nennt die erschreckende Zahl von 1.150.000.000 Artefakten, die nicht inventarisiert in deutschen Museumsdepots schlummern und damit weder der Forschung noch für Ausstellungen zur Verfügung stehen, aber doch Platz beanspruchen. So wird das Abgeben von Objekten in Zukunft mit ebenso anspruchsvoller Umsicht geschehen müssen, wie die Aufnahme eines Objektes in die Sammlung. Um das Gleichgewicht zwischen Tradition und Moderne herstellen zu können, muss jedes Museum seine individuelle Strategie zur Erhaltung einer dynamischen Sammlung entwickeln.

Impuls 3: Depot

Depotgebäude ZMD Weimar | Foto: Institut für Bauphysikalische Qualitätssicherung

„Die Weimarer Depotbauten aus Nutzersicht“ beschrieben die beiden Restauratoren Konrad Katzer und Uwe Galle von der Klassikstiftung Weimar sehr pragmatisch. Die Planungen zur Realisierung des Museumsdepots in Weimar gehen auf das Jahr 2008 zurück. Der Bau konnte im Herbst 2011 beginnen, als die Standortfrage und der Raumbedarf geklärt waren. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen bauklimatische und sicherheitstechnische Anforderungen. Die Depotfläche wurde nur für den Bestand genehmigt und gebaut, also weder für Wachstum noch Reserve. Funktionszusammenhänge, Entscheidungen für Einsparungen – alles musste immer im Gesamtzusammenhang gesehen werden. Entscheidend war das Sprachverständnis zwischen Architekt*innen, Planer*innen, Verwaltung, Restaurator*innen, Kurator*innen, das der Referent anhand der Begriffe „Sauberkeit“ und „Sicherheit“ schilderte – eine herausfordernde Kommunikation!

Für den Depotumzug war eine revisionssichere Bestandsverwaltung notwendig, die jedes Objekt nachvollziehbar auffindbar, unveränderbar und verfälschungssicher durch die Markierung mit einem QR-Code archiviert. Das ermöglicht eine verdichtete Standortorganisation, die der alphabetischen oder chronologische Ordnung überlegen ist, da das digital erfasste Objekt leichter auffindbar ist. Dieser Vortrag veranschaulichte sehr eindrücklich die Grenzen des Wachstums musealer Sammlungen, vor allem auch angesichts der Kosten und hohen konservatorischen wie sicherheitstechnischen Ansprüche, die idealerweise heute zu berücksichtigen und durch den digitalen Fortschritt optimal zu erfüllen sind.

Impuls 4: Museum & Gesellschaft

Gesellschafts-Forum | Foto: Kunstgewerbemuseum,
Staatliche Kunstsammlungen Dresden

„Mitgestaltung im Museum: Erfahrungen mit dem Gesellschaftsforum“ stellte Nora Grunwald vom Kunstgewerbemuseum Dresden (SKD) vor. In einem gemeinsamen Pilotprojekt mit der Bundeskunsthalle Bonn wurden Gesellschafts-Foren ins Leben gerufen, um Bürgerinnen und Bürger bei der Vorbereitung einer gemeinsamen Ausstellung „Für Alle! Demokratie neu gestalten“ (ab 30. Mai 2024 in Bonn und ab Juni 2025 im Japanischen Palais in Dresden) zu beteiligen. Hier sollten konkrete Handlungsempfehlungen für die Museen als inklusive Orte entwickelt werden. Vorbereitet und moderiert wurden die Zusammenkünfte vom nexus Institut Berlin. Die detaillierte Beschreibung des Projektes sowie das dazu gehörige Gutachten kann unter „https://kunstgewerbemuseum.skd.museum/forschung/gesellschafts-forum/“ aufgerufen werden.

Zu Beginn des Partizipationsprozesses kamen an zwei Wochenenden 33 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger aus Dresden und umliegenden Städten im Museum Pillnitz zusammen. Ihre Anregungen für ein Museum als partizipativen Ort betrafen das „Museum zum Mitmachen und Anfassen“, mit dem Wunsch nach mehr persönlichen Kooperationen mit den Museumsmitarbeiter*innen und breiteren Vermittlungsangeboten. Sie umfassten auch die Möglichkeiten der Raumgestaltung und Interaktion, konkret in den Wünschen nach bequemen Sitzgelegenheiten und einem Café. Der Name „Kunstgewerbe…“ wurde als nicht mehr zeitgemäß kritisiert und vieles mehr.

Die Referentin zeigte sich positiv überrascht von den gemeinschaftlichen Prozessen und dem Engagement der Teilnehmer*innen. Unterschätzt wurde ihrer Meinung nach der Nachfolgeprozess, in dem die Anregungen und Vorschläge umgesetzt und gestaltet, z. B. auch finanziert werden müssen. Die von den Teilnehmenden ausgearbeiteten Ideen und Empfehlungen für das Kunstgewerbemuseum werden in der gemeinsamen Ausstellung „Für Alle! Demokratie neu gestalten“ vorgestellt. Zuletzt wies sie auf die Konferenz “Das radikaldemokratische Museum“ im März 2024 in Dortmund hin, die der Frage Teilhabe noch rigoroser nachging: „Was heißt das radikaldemokratische Museum als Konzept und Perspektive, was als Institution?“

Impuls 5: Provenienzforschung

Kanne mit Bacchanal und Triumph der Seegötter, Monogrammist/Werkstatt „IC“, Limoges, 3. Viertel 16. Jh. | Foto: Felix Bielmeier

„Über das Potential eines Politikums“ sprach die Provenienzforscherin Dr. Katharina Weiler vom Museum für Angewandte Kunst Frankfurt. Als Anschauungsobjekte stand „die Kanne mit Bacchanal“, ein zauberhaftes Emaille-Objekt aus dem 16. Jahrhundert mit spektakulärer Provenienzgeschichte, im Zentrum ihrer Ausführungen. Dieses, mit Unterstützung der Ernst von Siemens-Kunststiftung erworbene und dem Grassimuseum zum Jubiläum als Dauerleihgabe übergebene Kleinod aus der Sammlung des Maximilian von Goldschmidt-Rothschild, kann inzwischen von jedermann in der ständigen Ausstellung bewundert werden. Die Referentin schilderte die facettenreiche Historie dieses Objektes und verdeutlichte daran, dass Museen auch die Geschichten der Objekte und nicht nur die Artefakte sammeln: Welchen Stellenwert wird die Provenienzforschung für die Gesellschaft und die Politik in Zukunft haben? Sie sollte nicht zum Schließen von Akten, sondern zur Projektierung eines in die Zukunft reichenden Erinnerungspfades führen.

Impuls 6: Digitales
„Dimensionen digitalen Sammelns – von Partizipation bis KI“ thematisierte Dr. Johannes Bernhardt von der Universität Konstanz, der u. a. auch auf mehrjährige Erfahrungen als Digital Manager am Badischen Landesmuseum Karlsruhe blicken kann. Sein Vortrag ließe sich auch als faszinierendes Feuerwerk der digitalen Optionen im musealen Universum beschreiben – als ein wahrhaftiger Impuls, dessen inhaltliche Tiefe und Konsequenz im Rahmen dieser Veranstaltung nur erahnt werden konnte.

Symposium “Die Zukunft des Sammelns” Vortrag Dr. Johannes Bernhardt | Foto: SvGwinner

Aktuell haben nur die wenigstens Museumsmitarbeiter*innen das Know-how und die Zeit, die notwendig wären, um die digitalen Möglichkeiten und Angebote auf den unterschiedlichsten Ebenen musealer Anforderungen zu erkennen und ihre Umsetzung voranzutreiben. Um ein paar Stichworte aus dem Vortrag zu nennen: Es bedarf digitaler Sammlungsstrategien als Fortsetzung der Sammlungen ins Digitale; Digitalisierung als technischer Prozess sollte zu Vernetzung und Partizipation führen; KI wäre wie ein Taschenrechner zu nutzen…Glücklicherweise nannte der Referent namhafte Museen, die sich auf diesem Gebiet bereits beispielhaft weit voran bewegt haben – und auch Literatur zur Orientierung.

U.a. das Havard Art Museum in Kooperation mit großen Playern wie Google, Amazon, etc. einen digitalen Katalog, der sich dank KI sehr besucherfreundlich konsultieren lässt:
https://harvardartmuseums.org/collections

Die online-Sammlung des Rijksmuseums Amsterdam erschließt aktuell 840.302 Kunstobjekte und Publikationen über nicht nur sinnvollen sondern auch inspirierende „hidden connections“ auf allen nur denkbaren Themenfeldern (z. B. der übergeordnete Begriff Politik und Ökonomie in den Details: Stile und Schulen, besondere Sammlungen, Genres, Politik durch die Jahrhunderte, Handel, Provenienz, Kolonialgeschichte etc.):
https://www.rijksmuseum.nl/en/collection/discover

Das Living Museum der British Museums Collection online ermöglicht den Zugang zu fast viereinhalb Millionen Objekten in mehr als zwei Millionen Datensätzen. Hochauflösende Bilder können vergrößert und im Detail betrachtet werden, die Möglichkeiten der interaktiven Suche und des Studiums sind beeindruckend: https://www.britishmuseum.org/collection.

Im intelligenten Museum ZKM Karlsruhe werden Ausstellungsräume responsiv gestaltet, die Objekte und Texttafeln reagieren darauf wie man sich als Besucher im Raum bewegt – sodass eine Anpassung und Personalisierung des Erlebens möglich wird – Zukunftsmusik?
https://zkm.de/de/zkm-digital.

Symposium “Die Zukunft des Sammelns” World Cafés | Foto: SvGwinner

Schließlich wies der Referent noch auf den Chatbot Ask Mona und die weltweite Kooperation von dessen Entwicklern mit Museen und Kulturinstitutionen hin, die ein fortlaufend revolutionäres Museumserlebnis anstreben. Der dialogfähige Agent von Ask Mona steht für eine neue Ära der Kunstinteraktion und verbindet das Know-how der künstlichen Intelligenz mit dem Reichtum des künstlerischen Erbes.
https://www.askmona.fr/en/nouvelle-home-en/.

Im Anschluss an die Vorträge luden die Impulsgeber an sechs Tischen im Rahmen eines „World Cafés“ zum gemeinsamen Austausch mit den Fachleuten aus dem Auditorium und weiteren Gästen. Eine Abschlussdiskussion beendete das Symposium.