Eine feine kleine Schau grafischer Werke arrangierte Kurator Heiko Damm in der neuen „Box im Foyer“ des GRASSI Museums für Angewandte Kunst. Es handelt sich um wunderbare Kostproben aus dem druckgrafischen Werk des Künstlers Hermann Naumann (*1930), die hier anlässlich seines 95. Geburtstages ausgestellt werden. Unter dem Titel „Betrachtungen zu Franz Kafka“ erlauben sie einen kleinen Einblick in die jahrzehntelang währende Auseinandersetzung des bildenden Künstlers mit dem literarischen Werk Franz Kafkas (1883-1924).
Immer wieder neu und anders – technisch wie stilistisch – folgt der vielseitige Künstler, der schon seit früher Jugend maßgeblich durch Literatur geprägt wurde, seinem Bedürfnis, die Worte in Bilder zu übertragen. Dabei erweist er sich als sehr empfänglich für die jeweiligen künstlerischen Strömungen der Zeit, was auch in dieser aktuellen Zusammenstellung offensichtlich wird. Seine Bildwelten reichen von surrealen bis zu abstrakten und realistisch expressiven Darstellungsweisen. Konstruktive Strenge stellt er neben organisch fließende Kompositionen.

Hier offenbart sich einmal mehr, welch großes Geschenk es für ein Museum ist, anhand des umfassenden Œuvres eines Künstlers dessen Entwicklung über Jahrzehnte hinweg nachvollziehen zu können. Dem GRASSI-MAK wird dies durch die Großzügigkeit von Hermann Naumann, dem renommierten Bildhauer, Maler, Zeichner und Grafiker, und seiner Frau Helga Luzens, ermöglicht. Beide übergeben seit dem Jahr 2018 Zug um Zug Werke aus dem üppigen und umfassenden Werk des Künstlers als großzügige Schenkungen. In einem Blogbeitrag vom 16.06.2020 gehe ich auf diese „Kunst der Gabe“ umfassender ein. Zahlreichen Stücke aus ihrer Sammlung und weit mehr als 1.000 Grafiken, Plastiken und Gemälde aus mehr als sieben Jahrzehnten des künstlerischen Schaffens sind inzwischen Teil der musealen Sammlung.

Internationale Aufmerksamkeit erlangte Hermann Naumann 1952 durch eine erste Folge von Illustrationen zu Kafkas Romanfragment „Der Process“ (1925) – insbesondere durch den, für diese Grafiken gewagten, Rückgriff auf eine nahezu in Vergessenheit geratenes Verfahren des spätmittelalterlichen Kunsthandwerks für den Tiefdruck: den Punzenstich oder Punzendruck. Diese Methode entwickelte sich aus einer Verzierungstechnik der Gold-, Silber- und Waffenschmiede. Naumann beschreibt sie in einem Brief vom Oktober 2003 an Dietrich Falke: „Das durch den Punzenschlag verdrängte Kupfer bildet einen kleinen Krater – viele dieser ‚Krater’ ergeben eine Rauigkeit – daher zählen Punzenstiche mit den Schabkunstblättern zu den ‚Raudrucken‘. Das Werkzeug ist also denkbar einfach, aber der Punkt als graphisches Grundelement bietet eine große Vielfalt der Wirkungsmöglichkeiten.“ Und er ergänzt später in einem Interview: „Da ich von Hause aus nun mal ein Plastiker bin, war es mir ein Genuss auf kleiner Fläche, auch in der Graphik, ohne zu erstarren, durch den lebendigen Punkt modellieren, plastische Formen oder feine Grautöne schaffen zu können.“ Er entdeckte auf einem Rembrandt-Portrait des Goldschmieds Jan Lutma die Werkzeuge dafür, einen Köcher mit angeschliffenen Stahlspitzen und ein Hämmerchen. Mit genau solchem Gerät erschafft er in geradezu meditativer Feinarbeit seine beeindruckenden Grafiken.
In den hier ausgestellten Illustrationen der 50er und 60er Jahre entfaltet diese aufwendige Technik, auch in Kombination mit eingeritzten Linien und Schraffuren, eine starke narrative Kraft, die jedem Detail, jeder Geste, jedem kompositorischen Bildelement seine dramaturgisch-szenische Eindeutigkeit zuweisen. Es bereitet große Freude, diese Blätter ausgiebig zu betrachten.

Hermann Naumann setzte seine Beschäftigung mit dem Autor Franz Kafka in Gestalt von Kaltnadelradierungen, Holzschnitten, Lithografien und großformatigen Kreidezeichnungen fort, ohne sich von der damaligen Kulturpolitik der DDR beirren zu lassen. Aus den 80er Jahren stammen weitere Blätter der aktuellen Präsentation, dieses mal als Illustrationen zu dem schmalen Erzählband „Betrachtung“ (zuerst bei Rowohlt in Leipzig 1913). Darin findet sich auch Kafkas wohl frühester Prosatext, „Die Abweisung“ (1906), dem Naumann eine zweite Lithographie, zu der auch eine Vorzeichnung gezeigt wird. Diese Arbeiten scheinen keine Verwandtschaft mit den Vorausgehenden zu teilen. Sie zeichnen sich durch schwungvolle Geste und Dynamik des Strichs aus – doch ebenso durch eine geradezu theatralische Räumlichkeit in ihrem Aufbau. Inhaltlich geht es um den fiktiven Dialog zwischen dem Erzähler-Ich und dem Mädchen. Naumann legt in seiner Interpretation souverän entlarvend den schamlos voyeuristischen Männerblick offen.
Viele weitere druckgrafische Schätze aus dem Atelier Hermann Naumanns befinden sich inzwischen im Besitz des GRASSI-MAK. Nicht alle können ausgestellt werden. Umso mehr lohnt sich ein virtueller Ausflug in die Online-Sammlung des Museums. Anlässlich des 95. Geburtstages von Hermann Naumann werden nun 95 Objekte dort zugänglich gemacht. Hier ist die Entdeckung weiterer Interpretationen von Texten der Weltliteratur durch Hermann Naumann möglich: GRASSI Museum für Angewandte Kunst | Sammlung.
Titelbild: Detail aus Hermann Naumann zu Franz Kafka, “Elf Söhne”, Punzenstich 1958