Hintergrund

Die geheimnisvolle Venus Medici

Eine Tour durch die Ständige Sammlung des GRASSI Museums für Angewandte Kunst Leipzig verspricht immer wieder, eine inspirierende Zeitreise durch die Epochen von Antike bis Historismus. Neuerdings überrascht in Raum 23, der dem Klassizismus gewidmet ist, eine Ikone der abendländischen Antikenrezeption die Besucherinnen und Besucher.

Venus de Medici im GRASSI Museum für Angewandte Kunst | Foto: SvGwinner

In schamhafter, gleichwohl legendärer Anmut der sogenannten „Venus Medici“ aus dem 2. bis 1. Jh. v. Chr. steht uns eine Bronzeskulptur aus dem vermutlich frühen 18. Jahrhundert gegenüber. Als Leihgabe aus den Kunstdepots der Bundesrepublik Deutschland vervollkommnet ihre attraktive Anwesenheit hier die thematische Dokumentation der künstlerischen Strömung des Klassizismus, die seit circa 1770 die überbordende Ornamentik des Rokoko ablöste. Dominiert wird der Saal 23 von einem großen Gobelin mit dem Motiv der „Schule von Athen“, in dessen Zentrum die Philosophen Platon und Aristoteles stehen. Er gehört in eine Reihe von zehn Wandbehängen, deren Vorbild die Fresken Raffaels in den Stanzen des Vatikan sind und die den an der Antike orientierten Geschmack des Klassizismus unverkennbar offenbaren.

Dieser vieldeutig großartigen Tapisserie steht die faszinierende Ikonografie der „Venus Medici“ in nichts nach. Die Leipziger Bronzefigur verkörpert Venus, die griechische Aphrodite. Der kleine Delfin an ihrer Seite weist auf ihre göttliche Herkunft, der nach der Legende aus dem Schaum des Meeres Geborenen. Die beiden Amoretten sind Symbole für ihren Status als Liebesgöttin. Die Göttin wird nach dem mythischen Typus der „pudica“ (keusch) dargestellt – ertappt, wie sie instinktiv ihre Brüste und Scham bedeckt, als ob sie sich von einem indiskreten Blick beobachtet fühlt.

Medici Venus in den Uffizien, Florenz

Vorbild für die Neu-Leipzigerin war die Marmorstatue der unbekleideten Venus aus dem 2. bis 1. Jh. v. Chr., die heute in den Uffizien in Florenz steht. Sie wurde Anfang des 16. Jahrhunderts in Rom, in der Nähe der Trajansthermen, gefunden und 1638 in der Villa Medici erstmals sicher nachgewiesen – daher ihr Name „Venus Medici“. Ihr Sockel trägt die griechische Inschrift „Kleomenes, Sohn des Apollodoros“, zu dem allerdings nichts überliefert ist. Mittlerweile wird die Echtheit der Inschrift in Zweifel gezogen.

Heute wird angenommen, dass ihr Vorbild die berühmte Aphrodite von Knidos von Praxiteles aus der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. sei, die sich in hellenistischer und römischer Zeit großer Beliebtheit erfreute und Modell für mehrere Neuinterpretationen war. Es gibt eine Vielzahl anderer Statuen ähnlichen Typs. Doch trotz umfangreicher Restaurierungen übertraf der Ruhm der Medici-Venus den ihrer Konkurrentinnen bei weitem. Sie galt zum Beispiel als eine der bedeutendsten Trophäen Napoleons, der sie von 1803 bis 1815 in Paris bewahrte, solange Italien unter seiner Herrschaft stand. Um diese Zeit baten auch erste Künstler, wie der berühmte Bildhauer Canova 1711 darum, die Statue durch einen Abguss kopieren zu dürfen. Sie setzten damit einen Trend, der die Venus Medici zur meist kopierten Statue aller Zeiten machte.

Recherchematerial zur Venus de Medici | Foto: SvGwinner

Die Größe variierte dabei ebenso wie das Material und sie diente darüber hinaus vielen Künstlern als Studienobjekt. Noch 1840 wurde sie von Ruskin als „eine der reinsten und erhabensten Inkarnationen der Frau, die man sich vorstellen kann“ bezeichnet. Man kennt über 70 Texte in der ihre Schönheit gepriesen wird und selbst Wilhelm Busch gewährte einer ihrer Porzellanrepliken einen, wenn auch traurigen, Auftritt in der „Frommen Helene“ – ein weiteres Zeugnis ihrer großen Popularität.

Die „Venus Medici“ im Raum 23 des GRASSI Museums für Angewandte Kunst ist jedoch nicht nur im kulturellen Mainstream der Kunstgeschichte verankert. Sie umweht drüber hinaus ihr eigenes Geheimnis, dessen Lösung bisher nicht gelungen ist. Man vermutet die Anfertigung des Bronzegusses im frühen 18. Jahrhundert, ohne den letzten Beweis dafür zu haben. Durch eine in der Archäologie oft eingesetzte Thermolumineszenzdatierung wäre es vermutlich möglich, präzisere Angaben zu gewinnen.

Abb. aus Volker Knopf, Stefan Martens, Görings Reich.
Selbstinszenierungen in Carinhall, Berlin, 1999
Seite 155

Anfang Juli 1990 bargen Polizeitaucher fünf Bronzen aus dem Wasser des Großen Döllnsees, unweit des einstigen Jagdschlosses „Carinhall“ in der Schorfheide. Neben drei lebensgroßen Skulpturen des Bildhauers Arno Breker kamen eine „Waldgruppe“ von Hans Krückenberg und unsere „Venus Medici“ ans Licht. Sie waren einst Teil der Kunstsammlung des Reichsmarschalls Hermann Göring, die dieser seit den späten 1920er Jahren in „Carinhall“ zusammen trug. Darunter waren übrigens mehrere Venus- bzw. Aphrodite-Skulpturen. Die Datenbank zur „Kunstsammlung Hermann Göring“ umfasst rund 4.200 Kunstwerke unterschiedlicher Gattungen, die zum Schutz vor Kriegseinwirkungen ab Februar 1945 durch mehrere Sonderzüge abtransportiert und in Burg Veldenstein und Berchtesgaden ausgelagert wurden.

Am 28. April 1945 erreichte ein sowjetischer Spähtrupp das Gelände von „Carinhall“. Daraufhin sprengten Angehörige der deutschen Wachmannschaft am späten Vormittag das Anwesen mit mehreren Fliegerbomben. Noch kurz vor der Sprengung versenkten sie die Bronzefiguren aus „Carinhall“ – auch die „Venus Medici“ – im nahegelegenen Großen Döllnsee. 45 Jahre ruhten die Statuen in ihrem nassen Versteck, was dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR durchaus bekannt war. „Man hatte seinerzeit Bergungsversuche abgebrochen, nachdem die Taucher im trüben Wasser auf Leitwerke von Fliegerbomben stießen und eine Sprengfalle vermutet hatten. Dass es sich dabei um harmlose Blechteile handelte, die 1945 vom „Sprengkommando Carinhall“ ins Wasser geworfen worden waren, konnten die Taucher nicht ahnen.“

Große Halle 14, Herbst 1943, FG © Fotoarchiv Volker Knopf, Endingen am Kaiserstuhl

So bleibt schließlich die Frage, wie die „Venus Medici“ überhaupt in die Sammlung von Hermann Göring gelangte. Damit verbunden ist natürlich auch die Frage nach möglichen Restitutionsansprüchen. Trotz aller Nachforschungen ergaben sich bisher nur zwei hypothetische Versionen. Eine Vermutung erwägt, dass es sich bei der Bronzeplastik um eine Schenkung des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Benito Mussolini (1883–1945) an Göring handeln könnte. Hintergrund ist der Besuch Mussolinis 1937 auf der „Internationalen Jagdausstellung“ in Berlin. Anschließend reiste er nach „Carinhall‘“ wo er von Göring empfangen und die Ernennungsurkunde als Ehrenmitglied im Reichsbund Deutsche Jägerschaft überreicht bekam. Die Übergabe von Kunstwerken ist allerdings nicht dokumentiert. Die zweite Version vermutet einen Erwerb der Skulptur durch den deutschen Kunsthändler Walter Bornheim im französischen Kunsthandel, genauer gesagt bei Jean Schmit, einem Pariser Kunsthändler, dessen Leumund zumindest fragwürdig war. Zu den Geschäftskunden Walter Bornheims gehörte, neben Adolf Hitlers „Sonderauftrag Linz“, auch Hermann Göring. Doch auch hier ist die Faktenlage äußerst dürftig. Für die daran besonders interessierten Leserinnen und Leser möchte ich auf die ausführliche Dokumentation der Kunstverwaltung des Bundes verweisen, die jedem noch so kleinen Detail nachgegangen ist:

Große Halle 20, Juni 1943, FG © Fotoarchiv Volker Knopf, Endingen am Kaiserstuhl

Für Dr. Thomas Rudi, den für die „Venus Medici“ zuständigen Kurator der Historischen Sammlungen im Grassimuseum, war ein Aspekt besonders wichtig – und zwar, ob historische Fotografien vorhanden sind, anhand derer der exakte Aufstellungsort der Figur in „Carinhall“ nachgewiesen werden kann. So kommt zum Beispiel der Innenbereich des großen Gebäudekomplexes mit seinen zahlreichen Räumen, Fluren und Hallen in Frage, aber auch der Außenbereich mit seinen weitläufigen Parkanlagen. Im Zusammenhang dieser Recherchen kontaktierte Dr. Rudi den „Carinhall“-Spezialisten Volker Knopf, der über die umfassendste Fotodokumentation über „Carinhall“ verfügt. Tatsächlich sind zahlreiche Fotografien überliefert, die Bronze- und Marmorfiguren in einzelnen Räumen, in den Innenhöfen und Parkanlagen zeigen. Und – beide Forscher wurden fündig! Anhand zweier Fotografien kann nun exakt belegt werden, dass die Figur in der sog. Großen Halle auf einem Tisch zusammen mit anderen Objekten präsentiert wurde. Damit ist das Rätsel des ursprünglichen Aufstellungsortes der „Venus Medici“ in „Carinhall“ gelöst.

Aus dem Nebel der Geschichte tritt uns hier die bronzene Göttin der Liebe und der Schönheit in archaischer Grazie entgegen. Ihre vollkommene Anmut ist offensichtlich, ihr Aufstellungsort in „Carinhall“ enträtselt, ihre wahre Herkunft bleibt jedoch verborgen. Dennoch freut sie sich bestimmt über Ihren Besuch!