Hintergrund

Vom großen Glück der Bibliothekarin

Der Eingang in die Bibliothek des GRASSI Museums für Angewandte Kunst liegt gleich vorne rechts, noch bevor man den ersten Innenhof betritt, etwas versteckt unter den Arkaden. Von hier aus geht es hinauf und hinab.
Oben verlockt der so genannte „Handapparat“ der Bibliothek zum Stöbern und Verweilen. Immer an der langen Wand lang reihen sich die kunst- und kulturwissenschaftlichen Schätze, locken mit vielversprechenden Titeln auf bunten Buchrücken und versprechen reichen Erkenntnisgewinn. Die Zusammenstellung dieser Handbibliothek wird von den Präferenzen der wissenschaftlichen und kuratorischen Mitarbeiter*innen des Museums bestimmt. Doch Mo Rieding, seit 2023 die verantwortliche Bibliothekarin in diesem Reich der Bücher, ergänzt immer wieder mit Neuzugängen und schafft Platz für aktuelle Literatur.

Mo Rieding | Foto: SvGwinner

Unten, im weitläufigen Magazin, wartet ein rund 64.000 Positionen umfassender Medienbestand, dessen Umfang und inhaltliche Bedeutung ich in meinem Blogbeitrag “Eberhard Patzig – ein bibliophiler Rückblick“ vom 7. April 2021 ausführlich beschrieben habe. Über 38 Jahre lang war Eberhard Patzig, gemeinsam mit Helga Jürgens-Keindorf, für die Bibliothek verantwortlich. Noch immer kommt er nahezu jeden Freitag ins Museum, bereit sein unerschöpfliches Wissen zu teilen – wofür ihm Mo Rieding ebenso dankbar ist, wie ihrer langjährigen Vorgängerin als Bibliothekarin für deren hilfreiche Übergabe. Mit dem personellen Wechsel ergaben sich auch veränderte Verantwortlichkeiten. Die Kunsthistorikerin Karoline Schliemann übernahm am 1. Juni 2021 das neue Amt der Kuratorin der Grafischen Sammlung – derzeit vertreten durch Dr. Heiko Damm. Im Blogbeitrag „Karoline Schliemanns Liebe zur Kunst auf Papier“ vom 29.Juni 2022 gehe ich darauf ein.

in der Bibliothek des Grassi Museums für Angewandte Kunst | Foto SvGwinner

Mo Rieding, ganz offensichtlich begeistert und erfüllt von ihren Aufgaben, setzt nun andere Akzente. In unserem Gespräch ist immer wieder vom großen Glück die Rede. Als sie ihr Studium der Bibliothekswissenschaften in Leipzig aufgenommen hatte, führte sie ihr erstes Praktikum bereits in die Bibliothek des GRASSI Museums für Angewandte Kunst. Und fortan träumte sie davon, dass sie dort einmal „landen“ möge. Zwei weitere Praktika während ihres Studiums absolvierte sie auch in Kunstbibliotheken, in der Bibliothek an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle und in der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Ihr Studienabschluss fiel zeitlich mit dem Renteneintritt von Helga Jürgens-Keindorf zusammen, sodass sie sich auf deren Stelle bewarb. „Ich bin sehr glücklich über das Vertrauen, das man mir hier im GRASSI Museum als Berufsanfängerin geschenkt hat!“ Sie wusste, was auf sie zukommen würde: “Als eine Einzelperson eine Bibliothek zu führen ist eine große Aufgabe – und macht sehr viel Spaß!“

in der Bibliothek des Grassi Museums für Angewandte Kunst | Foto SvGwinner

Nun ist es ihr Amt, die Medien- und Informationsbestände der Bibliothek weiter zu entwickeln, zugänglich und nutzbar zu machen. Bereits seit 2004 gibt es einen digitalen Katalog, in dem alle seither dazugekommenen Medien verzeichnet sind. Die früheren Bestände erschließen sich über einen manuellen Zettel- bzw. Schlagwortkatalog. Jede freie Minute nutzt sie, unterstützt von Praktikant*innen, auch die alten Bestände in den digitalen Katalog zu überführen… eine Aufgabe für Jahrzehnte! Doch auch hier spricht sie von Glück: da es in Leipzig den Studiengang Bibliothekswissenschaften gibt, gibt es auch immer interessierte Praktikant*innen – zwei pro Semester, die sie gerne bei ihrer Arbeit unterstützen.

Nacht der Bibliotheken 2025 | MfAK Bildarchiv

So zum Beispiel auch in der jüngst veranstalteten „Nacht der Bibliotheken“ in Leipzig, zu der 600 Besucher*innen in die Bibliothek kamen. Gemeinsam mit den Kolleg*innen der Museumspädagogik und dem jungen Freundeskreis des Museums, den GRASSI Friends, entwickelten sie ein inspirierendes Angebot. Eine Spurensuche für Kinder, quer durch die Bibliothek, mit der Antwort auf die Frage, was Dinosaurier in einer Bibliothek zu suchen haben, war ebenso dabei wie die Umwandlung ausgewählter Buchillustrationen für temporäre Tattoos. Und wieder ist sie beglückt, nun über die großartige Unterstützung aus dem Team, „das in der Liebe zu den Büchern“ einig ist.

Tag der offenen Tür 2025 | MfAK Bildarchiv

Das führt uns auch zu Mo Riedings zentralem Anliegen: eine größere Aufmerksamkeit für die Bibliothek zu kreieren, sie als angenehmen und inspirierenden Ort für alle bekannter zu machen – über den Kreis von wissenschaftlich Interessierten und Studierenden hinaus. Seit ihrer Gründung sind die Museen der Angewandten Kunst und auch ihre Bibliotheken als Vorlagen-Sammlungen immer offen für alle gewesen, was heute die Wenigsten wissen. Als Ansprechpartnerin für die Besucher*innen unterstützt Mo Rieding bei der Recherche und Nutzung des Bibliotheksangebots. Besonders gerne widmet sie sich herausfordernden Ermittlungen, wie zuletzt, als es beispielsweise darum ging, Abbildungen von tätigen Händen zu finden. Museumsbesucher*innen, die von einem Objekt oder einer Information in der Sammlung besonders beeindruckt sind, lädt sie ein, in die Bibliothek zu kommen um mehr darüber zu erfahren.
Als Besonderheit wird seit vielen Jahren eine Personendokumentation geführt, eine Sammlung von Material biografischer Art – über die Aussteller*innen der GRASSIMESSE sowie Künstler*innen und Persönlichkeiten, die mit dem Haus verbunden oder von sonstigem Interesse sind. Diese Informationsquelle konnte schon in sehr besonderen Fällen helfen und ist vor allem für Sammler*innen von großem Interesse.

Tag der offenen Tür 2025 | MfAK Bildarchiv

Der Arbeitstag der Bibliothekarin beginnt mit „Geschenke auspacken“. In einem weltweiten Netzwerk von Institutionen, Bibliotheken, Lehr- und Forschungsinstituten werden kostenlos Schriften getauscht, Eigenpublikationen des Museums gegen Publikationen anderer Häuser eingewechselt. Auch Dubletten aus Bücherschenkungen können über ein Onlineportal getauscht werden. So gibt es nahezu täglich Pakete zu versenden und eintreffende Postpakete auszupacken, deren Inhalt in den Bestand einzuordnen, zu katalogisieren und mit einer Signatur zu etikettieren. Die Signaturen geben den genauen Standort eines Buches innerhalb des Bibliotheksbestandes an und bestehen aus einem festgelegten Code: aus Buchstaben für das Sachgebiet, der laufende Zugangsnummer und der Größenangabe – so lässt sich jedes Medium schnell finden, auch wenn es nicht nach Sachgebiet geordnet im Regal steht. Im Magazin werden die Bücher nach Eingang angestellt und können dort, nach einem versierten Blick in den Katalog, anhand ihrer Signatur schnell gefunden werden.

Nacht der Bibliotheken 2025 | MfAK Bildarchiv

Die alltägliche Aufgabe von Mo Rieding besteht auch darin, die eingegangenen Buchbestellungen der Wissenschaftler*innen im Haus oder auch externer Interessenten zu bearbeiten. Persönlich, per E-Mail oder Telefon schicken diese ihre Anliegen voraus – Mo Rieding legt die gewünschten Medien für die Nutzung in der Präsenzbibliothek bereit. Hier kann man dann ungestört lesen, forschen und entdecken, auch im reichen Bestand der Handbibliothek und Fachzeitschriften. Umfangen von den leise und zaghaft vordringenden Geräuschen der Stadt da draußen, entfaltet sich die großzügig freundliche und gleichzeitig konzentrierte Atmosphäre der Bibliothek. Ein anderer Ort. Welch ein Glück!